Mittwoch, 27. Februar 2013

Die Magenhyäne und der Koffeinkopfschuss

TAG 6 beginnt zwei Stunden später als geplant. Wir haben die Rechnung nämlich ohne den Vodka gemacht. Den Wecker hören wir nicht. Die Panik beim Erwachen wirkt dann aber eh viel besser als ein Koffeinkopfschuss. Wir packen im Eilverfahren. Zahlen, taxen zum Flughafen, geben dem Taxler die letzten 10.000 Sum, checken als letzte Passagiere ein, lassen uns auch vom Papierkram-Vorweisen (diverse Registrierungen, ein Zollwisch auf russisch!) nicht mehr nerven und abhalten, den Flieger doch noch zu erwischen. Von Restalkohol kann noch nicht gesprochen werden. Die Vodkablume blüht noch in all ihrer Pracht und macht uns herrlich unbekümmert und zuversichtlich. Dass wir tatsächlich um 8 Uhr 55 beim Gate B1 stehen (obwohl wir erst um 7 Uhr 45 das Licht dieses Tages erblickten), glauben wir – wären wir nicht gerade allumfassend glückselig – selbst am allerwenigsten. Aber der Vodkaboost macht's möglich. Der Taxler schonte seine Blechdose auch nicht, die Schlange beim Check-in haben wir uns erspart und zwei Stunden vor Abflug vor Ort zu sein, ist nur was für Luschen, ist zu gewöhnlich, zu sicher, zu langweilig, ist schlicht Zeitverschwendung. 
Freilich lässt die Gelassenheit verleihende Vodkawirkung irgendwann über den Wolken, in den engen Flugzeugsitzreihen dann nach und wird von ebenfalls allumfassend sich einstellender Übelkeit abgelöst, aber das gehört zum Trinkspiel. So wird der Kontrast besser herausgearbeitet. So wird die Gefühlshochschaubahn retrospektiv fasslicher. Die Stewardess erkennt unseren Zustand und überlässt uns einen Doppler Wasser. Das servierte Menü bügelt die Magenhyäne zum sanften Kater nieder. Das Dröhnen ist nicht im Kopf, es kommt von den Düsen. Die Kotztüten bleiben unberührt und kurz bevor der Kater zum Prankenhieb ausholt, schiebt man uns Istanbul unter den Hintern. Istanbul International Airport und Mega Food Court und gegen olivenölgetränkte Melanzani, diverses reisähnliches Kornstopfgut und zwei Ho-ruck-zack-zack italienische Muntermacher-Espressi hat nicht einmal der mieseste Kater etwas einzuwenden. Die Reise kann enden. Wir schreiben Freitag, den 22. Februar 2013. Es ist 15 Uhr 45 unser Flug geht um 17 Uhr 10. Brechen wir auf!

Dienstag, 26. Februar 2013

Vodka, Puschkin und Kampfbrüste

Von der Landschaft sehen wir (an TAG 5) wieder nichts. Erstens Fensterstores, zweitens Sonnenblenden (obwohl keine Sonne weit und breit), drittens beschlagene Fenster (ob wir so ausdünsten? Schaschlikschweiß?), viertens draußen graue Nebelsuppe. Also stecken wir unsere Nasen in Bücher. Ich lese den Reiseführer und decke Murats Schwächen auf. Unser Abteil verfügt über zwei Bildschirme (gottlob aus!) und zwei Mitreisende, die sich erfreulich ruhig verhalten und meist ohnehin im Gang stehen. Vielleicht riecht doch der Krautsalat von gestern in unseren Rucksäcken etwas streng.
Der Bahnhof ist schön aber tot. Im letzten Eck eine Bar. Café möchte ich es nicht nennen. Denn es gibt keinen Tee – dass uns das in Mittelasien einmal unterkommen würde, hätten wir nicht gedacht – und den Löslichkaffee veredelt der Bartender mit massig Zucker. Selten so geekelt. Aber die Sucht macht's möglich auch diese Plörre zu trinken. Wir verstehen keine Durchsage, wir können keine Anzeigetafel lesen, wir sind Idioten, aber wir haben unsere Tickets und Pässe ja schon mehrmals vorgewiesen und gestempelt gekriegt und ohne uns fährt der Zug sicher nicht ab (was auch für den Flieger am nächsten Morgen gelten sollte). Wir fahren 1. Klasse, der normale Zug ist eineinhalb Stunden länger unterwegs und kostet nicht viel weniger (50.000 hin – 40.000 zurück) als der flotte „Afrosiyob“ (was übrigens einfach der alte Name für Samarkand ist).
Zurück in Tashkent geben wir uns abgebrüht, begegnen der Taxifahrermeute abgeklärt und verhandeln erfolgreich. 5000 statt gewünschte 5 Dollar. Im Hotel wissen sie diesmal zwar von uns, kopieren aber wieder fleißig und umständlich unsere Pässe und der Anruf, der dann kommt, hat hohen Unterhaltungswert.
Weibliche Telefonstimme: „(…) Where did you stay the days before yesterday?“
Ich: „In this house.“
Weibliche Telefonstimme: „Where is this?“
Ich: „?!? - in this hose?! Hotel Shodlik Palace!“
(…)
Aber hier leben – nein, danke!, singen Tocotronic und sie haben damit sicher nicht Tashkent gemeint, aber kommen mir wohl deshalb in den Sinn, weil „Kapitulation“ im Goethe Institut zum Ausleihen aufliegt. Wir marschieren pünktlich um zehn Minuten vor Lesungsbeginn ins GI ein. Die Gastgeberinnen warten bereits seit einer Stunde mit Kaffee und Keksen, über die wir uns dann auch gleich hermachen (also die Kekse und den Kaffee, nicht die Gastgeberinnen). Gerne hätten uns die Gastgeberinnen zum Essen geladen, aber danach mussten sie zu ihren Kindern, davor waren wir noch nicht und am Tag drauf sind wir nicht mehr da. Gehen wir halt selbst essen, zum Araber. Sehr okayer Vorspeisenverzehr. Unterlage für ein Vodkagelage ist das natürlich keine. Doch Vodka will sein! Viel! Viel und mehr. Auweia!
Im Green House, unweit vom Georgier, sind wir zwar die einzigen Gäste, aber das stört uns nur wenige Vodka lang. Es wird hitzig debattiert, von der Hausmatrone Puschkin rezitiert und russisch karaokt, dass die Schwarte kracht. 
Ad Hausmatrone: Lederstiefel bis zum Knie, schwarz Leggin, schwarzes Oberteil und drüber ein weißes, grobmaschiges Häkelkleid. 60 Jahre, Kampfbrüste, durchaus etwas Transiges, Verruchtheit zum Quadrat, ein kehliges „Icchliebe dicch“, stets parat, routinierte Moves, die die Textzeilen unterstreichen, die Brüste beben und die Zuschauenden erschauern lassen. Ein lasziv roter, zum Lippenstift passender Funkmikroploppschutz, gewolltes Übersteuern, verstörende Tanzeinlagen, trashig, peinlich, unglaublich. Nüchtern nicht denkbar – betrunken das i-Tüpfelchen von kultig.
Dass die dralle Lolkalheroine während ihrer Performance mit ihrer Linken zärtlich ihre Lesebrille umschließt, die sie sich nach ihrem Auftritt wieder inst Gesicht hängt, um nicht auf den Türstock zu donnern, hat etwas das Gesamtbild für immer einzigartig Abrundendes und lässt mich ergriffen glucksen
Um unser Wohlbefinden sind insgesamt drei Damen bemüht. Die blonde Koreanerin, die am Ende des Abends geheiratet werden wollte, schenkt Vodka ein. Die junge Usbekin bringt Bier und frische Aschenbecher und die alte Chefin ist schlicht eine Nummer für sich. Ein Mann kommt erst ins Spiel, als es ums Zahlen (und Heiraten der Vodkakoreanerin) geht, was wir nicht ganz können (beides). Gut, dass man den Vortrinker und DAD-Lektor Matthias bereits kennt, so bleiben uns blutige Nasen und trockene Kehlen trotz leerer Taschen erspart. Denn der Mann ist zwar klein und spärlich beflaumt aber ein Messer kann er sicher halten, lenken und versenken. Man kennt das ja aus Filmen, die nicht immer schlecht sein müssen. Danach Bewusstlosigkeit bis 7 Uhr 45.

Montag, 25. Februar 2013

Schaschlik, Popel und Grummelmodus

Die Nacht vor TAG 4 ist kurz. Der „Afrosiyob“ will erreicht werden. Der georderte Taxler will glatte 10.000, kriegt 7.000, im Zug (Talgo) gibt es ein Frühstück, wir holen zwei Stunden Schlaf nach, sehen (auch nebelbedingt) nichts, kommen pünktlich in Samerkand an und dort wartet er schon, der nächste Dekan.
Samarkand macht einen größeren Eindruck. Jedenfalls ist der Bahnhof ziemlich außerhalb. Ein Zentrum gibt es in Samerkand nicht wirklich. Es gibt die Altstadt, den sowjetischen Teil und die Touristenattraktionen. Wären die nicht, wär's trist. Aber zugegeben, es sind viele. Wir wohnen in der Altstadt: B&B Hotel Antica. Eine klamme Kammer aber nett. Abends fällt der Strom aus. Es kann aber auf gespeicherte Solarenergie umgeschaltet werden. Irgendwann n der Nacht geht das Licht dann wieder an. Das kommt regelmäßig vor hier. 3.500 Kilometer sind es übrigens von Tashkent bis Istanbul. Von Tashkent bis Samerkand sind es zwei Stunden mit dem schnellen Talgo und dreieinhalb Stunden mit dem normalen Zug.
Das Frühstück im Hotel Antica ist toll. Kürbisblinis, Omeletten, Maulbeer- und Feigenmarmelade und diese Weizenkeimschmiere deren Namen ich mir nicht gemerkt habe. Wir ziehen sogar unsere Schuhe aus und schlüpfen in bereitstehende Puschen, was bei dem Zustand der Altstadtstraßen (Schlammpiste mit Buckeln, Löchern und Abwassergräben) auch Sinn macht. Die Vermieterin spricht perfekt deutsch, erzählt vom Elend aber auch, wie schön es im Sommer ist und dass Matthias Politicky da war und ein Buch geschrieben hat, das bald herauskommen wird. Samerkand, Samerkand soll es hießen – altherrenoriginell. Momentan ist natürlich Nebensaison. Aber man kann sich ganz gut vorstellen, wie hier Touristengruppen durchgepeitscht werden und Reiseleiter ist ein beliebter Studi-Job. Wir haben uns das anders vorgestellt, als es hieß, Studierende würden uns die Stadt zeigen. Murat ist ein Tartar und Vollblut-Guide. Er textet uns zu, lässt uns Eintritte zahlen und am Basar ist er ebensowenig auf unserer Seite, wie beim Taxipreis verhandeln. Das ist ungut. Ich schalte auf Grummelmodus, will nicht geneppt werden und drücke das mit jeder Faser aus. Meine Frau und Reisepartnerin geht ganz gut damit um. Schließlich essen wir Salat und Brot auf der Veranda und zahlten dafür mehr als für ein normales Mittagsmenü.
Samerkand liegt auf 750 Höhenmetern und wird an drei Seiten von Bergen gesäumt. Das macht was her. Drei Seiten sind auch am Registan Platz gesäumt und zwar von Medresen (das sind vereinfacht gesagt Schulen samt Wohnzellen). Toll verziert, verspielte Svastikaornamente und der Tiger, der auch vom 200 Sum Schein lacht. Daneben dann eine megaprotzige Moschee mit der größten Kuppel Mittelasiens im Mittelalter. In fünf Jahren gebaut, das war zu schnell, Husch-Pfusch-Zusammenrumpel folgte und wieder gleich daneben ein Basar. Die Nekropole haben wir nur von der Ferne gesehen aber ehrlich gesagt interessieren uns die Sowjetbauten eh mehr. Und davon gibt es in Tashkent mehr als in Samerkand.
Die Lesung ist dann wohl einer der skurrilsten Auftritte ever. Vor allem, weil anfangs nur alte Männer in der Runde sind und sich ein paar Studis erst später dazu gesellen. Alter Mann: „Erzählen Sie uns was über Österreichische Literatur!“ Ich: „Dafür bin ich nicht hier.“ Alter Mann: „Sie sind sicherlich talentiert. Singen Sie ein Lied!“
Meine Frau, Reisepartnerin und Mieze Medusa rappt, so geht die Zeit auch um und dann unterhalten wir uns mit einem Albino Usbeken bei Meinl Kaffee über Bichsel, Borchert und unerschwingliche Bücher. Der Albino Usbeke und Deutschlehrer ist nett. Wir fühlen uns ihm schlagartig so verbunden, dass wir ihn fast darauf hinweisen, dass seit Anbeginn unserer Unterhaltung ein Popelchen aus seiner Nase lugt, das sich an sich schon von der Naseninnenwand getrennt aber eben in den feinen Nasenhärchen verfangen hatte uns so bei all seinen Bewegungen mit wippt. Der wird beschenkt mit Sprechknoten. Danach ist es höchst Zeit für Fleisch. In Schaschlikform hatten wir uns dieses ja bisher noch nicht einverleibt.
Also Leber-, Hühner-, Rinder- und Mix-Spieß mit reichlich Salat und hinterher den ersten Vodka (und das am vierten Tag!). Dass Tags drauf derer noch viele folgen sollten, können wir zu dieser Stunde noch nicht wissen. Wir gehen früh schlafen, um früh frühstücken und dann nochmal Richtung Basar laufen zu können. Dass die Taxifahrer uns eine lautmalerische Performance abverlangen, um auf die Idee zu kommen, dass wir zum Bahnhof wollen, ist eigentlich sehr unterhaltsam. Wir bezahlen außerdem weniger als unter Murats Schirmherrschaft. Nein, der feiste Murat bleibt auch in der Erinnerung ein Grummelgrund. 


Sonntag, 24. Februar 2013

Russischer Hering und Bruce Willis

An TAG 3 steht dann ein Fußmarsch an. Fußmarsch und Eigenerkundung der Umgebung. Denkmäler, Paläste, Plätze alles da und am besten vom 17. Stock des Hotels Uzbekistan am Amir Timur Platz zu überblicken. Die Sowjetarchitektur gefällt uns, ist immer für ein Foto gut, die breiten Straßen weniger. Die Wege sind weit, wir aber gute Fußgänger. Wir besänftigen den Magen mit Pasta Bolognese und sind gespannt auf den Workshop. Wir erfahren, dass Facebook hier Anaglasniki heißt, dass die Studis kein Problem damit haben, vorzutragen und dass sie temperamentvoller sind, als man annehmen wollte. Kein kühler russischer Emotionsmantel sondern Gastfreundschaft, Herzlichkeit und emotionale Offenheit sind festzustellen. Der Belohnungs- und Aufwärmjasmintee in der wohl teuersten Etablissement weitum ist gut und leistbar, einige Getränke aber schon absurd teuer (Ice Tea 17.000, Erdinger 44.000, Espresso 15.000). Nachdem wir beim Italiener schon 12.000 für einen frischen Orangensaft, der dann ein frischer Apfelsaft war, bezahlt hatte, schockiert uns das zwar nicht all zu sehr, aber es macht uns vorsichtig. Es folgt ein Abstecher beim Georgier. Tolles Essen, nur leider keine zeit, weil Bruce Willis auf russisch auf uns wartet. Stirb langsam 5 (18.000 Sum) mit Kinobarbier (3.500). Ein Vergnügen und – weil in Russland spielend – ja auch richtig gut passend. Danach dann doch noch zwei Hotelbarbier, weil es grad schmeckt und geredet werden will.

Hier brennt Hanno am Unabhängigkeitsplatz
TAG 2 beginnt mit dem gleich schlechten Frühstück. Die Topfenblinis und Reisomeletten sind schon in Ordnung aber Obst, Gemüse und regionales Brot gibt es nicht. Vom Kaffee wollen wir an dieser Stelle nicht berichten, es sei nur erwähnt, dass der Beuteltee keine Alternative ist. Wir treten also nicht kaffeegestärkt für den ersten Auftritt an, werden von Camola und Chauffeur abgeholt und ins edle Gebäude des Fund Forums gebracht. An den Wänden Fotos der bisherigen Veranstaltungen. Auf vielen steht eine blonde Frau im Mittelpunkt (des Präsidenten Tochter und die Fund Forum Chefin). Wir lernen sie nicht kennen. Uns betreut einer, der in Wien studierte und fürs Konsulat in der Pötzleinsdorfer Straße arbeitete. Dann Interview vor laufender Kamera, dann doch noch Kaffee und darauf folgender Schnellschiss und dann füllt sich der Raum mit angekarrten Studis. Anfangs wird tatsächlich für einen Abgesandten des Kulturministeriums simultan übersetzt, das stört natürlich – wir sprechen ohne Mikros – das Übersetzunterfangen wird aber doch recht bald aufgegeben (so ziemlich genau nach den ersten Fruchtfleisch-Zeilen), der Dichtung sei Dank. Es wird eifrig mitgemacht, applaudiert und gefragt. Es wird mitgefilmt und fotografiert und ein deutschsprechender Zensor wird mit dem Material sicher noch viel Freude haben. Danke. 
Ab zur Weltsprachenuni
Mittagessen mit Tee, Kefir, Salat und Lagman um 10.000 Sum. Das Institutsgebäude wird nächstes Jahr abgerissen, das Haus krächzt wohl schon seit Jahren. Aber toller, lebender Holzboden, himmelblaue Schulbänke, farbenfreudige Fotos und weise Sprüche vom Präsidenten. 
Alle zufrieden. Feierabend mit richtigem Espresso beim Italiener, selbstgebrautem Bier im Bierhaus und leider viel zu viele Zwiebel zu den russischen Heringen. Wir wollen sparen, weil noch ins Kino, es gehen uns die Sum aus, weil noch 15 % aufgeschlagen werden und dann haben wir mit rebellischem Magen und sumlos die Taxiheimfahrt anzutreten. 
Die Zwiebelaura unterbindet bis auf weiteres jeglichen Nahkontakt. 
Der Schlaf ist schlecht und selbst am nächsten Morgen haben wir noch mit einigen hartnäckigen Restzwiebelschichten zu kämpfen.

Plov, Kurt und Hotelbarbier

TAG 1: Bis 11 lässt man uns ruhen. Dann steht der Dekan persönlich parat, um uns Tashkent zu zeigen. Kristina, die uns abgeholt und im Vorfeld alles organisiert hatte, ist mit von der Partie. Wir fahren an allen Monumenten der Neustadt und schmucken Plattenbauten vorbei, schrammen kurz auch der Altstadt entlang, steigen aus, um das Kaffal-Shashi-Mausoleum und die Medrese Barak Chan und den Ort, mit dem berühmten Lederkoran zu sehen und stürzen uns sodann ins Basar-Getümmel. Die Entdeckung sind schrill-bunte Salatberge und die Kurt-Abteilung (Kurt ist Trockenkäse). 
Brot wird in alten Kinderwägen am Straßenrand angeboten und ist heilig (immer zwei kaufen, nie verweigern oder irgendwo liegen lassen!), nur leider am Hotelfrühstücksbuffet nicht in dieser Form zu kriegen. Vor dem Basar ist eine Handwerkerstraße. Spezialisiert ist man hier auf Kinderbetten mit integriertem Topf und einem Leitungssystem, das Kleinkinder windellos schlafen lässt. Dann geht’s heim zum Dekan: Plov essen. Der Dekan der Weltsprachenuniversität Tashket wohnt mit Frau, Sohn und Schwägerin in einer Fünfzimmerwohnung in einem Plattenbau direkt an einer viel befahrenen Straße. Töchter hat er auch, alle haben studiert und arbeiten. Die Frau kocht. Wir essen. Es schmeckt.

Wir schneidersitzen auf diesem Riesenbettgestell mit Tisch in der Mitte. Uns wird reichlich Tee gereicht. Süßigkeiten und Trauben sind schon da und wollen verkostet werden, obschon das Essen erst beginnen wird. Salate in allen Farben. Die rote Rübe wird hier hoch gehalten und mit Walnüssen, Bohnen, etc. veredelt. Krautsalate mit massig Kräutern. Karotten mit Kreuzkümmel, dazwischen Radieschen und Kohlrabi in besonders knackiger Form und grellem grün. Mariniert wird mit Kefirsoße und Eingelegtes dominiert. Dazu natürlich Brot – äußerst schmackhaft. Und dann Plovts. Der sympathische Dekan erzählt von seiner Zeit in der DDR, von seinen Kindern, dass er eines von zwölfen war, etc. Das ist alles sehr ungezwungen, relaxed und interessant. Dann wechselt er auch noch bei einem Freund Dollar und Euro für uns und kommt mit einem ganzen Sack voll Geld zurück. Wir sind eingeschüchtert und lernen den SUM kennen. 
Die Zugtickets hätten wir ohne seine Hilfe wohl nur unter Aufbringung von viel Zeit und Gestikgeschick erstanden. Die Bahnhöfe sind abgesichert wie Flughäfen. Wir sind in einem -istan, einem Endsilben -istan-Land. Bedrohung ist nicht virulent aber jederzeit möglich. Dass wir am ersten Abend ein Lokal in Hotelnähe finden, das an sich einen noblen Eindruck macht – Luster, Teppiche, schweres Gedeck – in dem das Bier aber nur sensationelle 2000 Sum kostet, ist ein genehmes Wunder. Im Hotelfernsehen dann ZDF Sonntagnachmittagsport (weil vier Stunden Zeitverschiebung). Die 7000 fürs Hotelbarbier zahlen wir dann gar nicht gern, zumal es in der „Hemingway Bar“ endlos trostlos ist.

TASHKENT

Denkmäler im Wandel: 1940 Stalin, 1967 Marx, seit 1993 Amir Timur
Autos weiß, Kleider schwarz, Kuppeln blau, Zäune türkis und Zähne gerne goldig. Soviel zu oberflächlichen Auffälligkeiten.
Schlaglöcher und Straßengräben. Löslichkaffee, Beuteltee und weiße Sprüche des Präsidenten. Soviel zu evidenten Ärgerlichkeiten.
Sowjetarchitektur prägt die Neustadt. Breite Straßen, riesige Plätze und massive Kastenbauten. Da und dort ein neues, orientalisch anmutendes Hochhaus mit Glas und runden Formen. Springbrunnen an allen möglichen Orten und wo kein Springbrunnen, da ein Semigur. Das ist ein geschichtsträchtiger Vogel.
Urwüchsige Bäume und davon viele. Im Frühling grünt's hier wohl prächtig. Grün auch die Uniformen der Wächter. Nicht hell, nicht dunkel, so ein landesflaggenpetrolgrün – sehr kleidsam. Die Kopfbedeckungen (wie nah „Bedeckung“ am Deckel ist, wird einem hier klar) sind ohnehin unschlagbar.

Die offizielle Arbeitslosigkeit ist gering, die tatsächliche nicht eruierbar. Die Großfamilie bietet Rückhalt. Der offizielle SUM-Kurs ist gering, die zahlreichen offenbar hauptberuflichen Wechsler bieten 30 % mehr. Der größte Schein ist ein 1000er. Ein Dollar inoffiziell 2600 Sum wert. Will man am Basar einkaufen, geht man mit einem Nylonsack voll Geld dort hin. Will man mehr einkaufen, braucht es schon einen Rucksack voll. Man wedelt mit 100.000er Packerln, die mit Gummibändern gebündelt sind.

Schal falsch. Zimmer im 9. Stock. Aufzug? Ja.
Die Einreise verläuft recht unproblematisch und flott. Das Gepäck wird noch mal gescannt und die ausgefüllten zettel gestempelt. Dann wird man ins Land entlassen. Eine Ankunftswartehalle gibt es nicht. Aber eine Taxifahrermeute, die sich auf einen freut. Für 3000 SUM sollte man in Tashket an sich überall hin kommen. Aber je nach Dringlichkeit, Verfügbarkeit und Wetter ändert sich der Preis natürlich. Auch gibt es offizielle Taxis mit Taxischild wie man das kennt. Aber noch viel mehr inoffizielle Taxis. Wer ein Auto hat und gerne Auto fährt, ist Taxler. Die Kofferräume sind etwas kleiner, weil sich darin der Gastank breit macht. Gurte hinten sucht man vergeblich, ein Taxameter auch, egal, es muss ohnehin verhandelt werden (vorher!). Die paar Touristen-Hotels kennen alle und man sieht sie auch von weitem.
Dass für Late-night-check-in im Hotel Shodlik nur die Hälfte verrechnet wird, ist toll. Dass es so ausschaut, als wäre für uns nicht reserviert, ist zur Ankunftsstunde (3 Uhr 30) weniger lustig. Aber wir werden schließlich aufgenommen und dürfen gegen 4 Uhr und 13 Stunden Reise in die Betten sinken. Daheim ist's grad Mitternacht.

Scheingefühle. Ein Währungsgedicht

Die Währung in Usbekistan heißt SUM
Wenn ich dich in meine Arme schließe
Wenn ich dich berühr, dich zart begreife
Spür ich nicht den Funken einer Krise
Sondern nur die Aura deiner Reife
O Sum, o Sum, o Sum, Sum, Sum
Du bist keine Biene, hast keine Flügel
Du bist eine Währung und hast Scheine
O Sum, du summst nicht, sichst nicht, machst keinen Honig
Du zahlst, kaufst, zählst für mich
O Sum, du machst mich zum Millionär
O Sum, du beulst mir die Taschen aus
O Sum, du lehrst mich das Zählen von 1,2,3,4,5,6,7,8,9 bis 100
O Sum, gäb's dich nicht in 100er Päckchen, hätt' ich nie Gummibänder zur Hand, um damit im Unterricht Papier-U-Häckchen zu verschießen
O Sum, gerne fächel ich mir mit dir Wind zu
O Sum, o Sum, o Sum, Sum, Sum
Ich komm sum Schluss – Warum?
Cogito ergo sum!

Samstag, 2. Februar 2013

Erleben!

Lisa Kränzler ist für den Rauriser Literaturpreis 2013 nominiert. Da werden Debüts ausgezeichnet. "Export A" ist Lisa Kränzlers Debüt und 2012 im Verbrecher Verlag erschienen. 2012 ist Lisa Kränzler auch beim Bachmannpreis angenehm aufgefallen und hat für einen Ausschnitt ihres Romanes "Nachhinein", der demnächst (ebenfalls im Verbrecher Verlag) erscheinen wird, den 3sat Preis erhalten.
Export A steht für eine Zigarettenmarke kann aber schon auch als Export der A-Klasse gelesen werden. Lisa Kerz ist nämlich Austauschschülerin. Deutsche in Kanada. Eine aufgeweckte 16jährige: "Ich hatte stets die höchste Ansprüche an mich, verabscheute nichts mehr als Halbwahrheiten." (27)

Die ältere Schwester hat es nach Kanada verschlagen. Die versucht dort mit einem religiös konservativen Mann ihr Seelenheil und ist die erste Anlaufstelle für Lisa. Das familiäre Klima ist ebenso eisig wie das äußerliche, aber Lisa brennt. Lisa will Erfahrungen sammeln, Leben ausprobieren ohne Kompromisse: "Meine eigene Lebendigkeit drohte, mich in den Wahnsinn zu treiben." (60)
Ihre erste Bleibe ist ein VW-Bus, dann ein braunes Zimmer im Nirgendwo und schließlich ein WG-Zimmer im mintgrünen Reihenhaus Joshs (der Höhepunkt, nach der Räumung dann noch ein Umzug in die Maple Street bei gütigen Pflegeeltern). Die Bezugspersonen im Rausch Lisas wechseln rasant. Große Schwester - Gott (in der Vertretung von Pasor Leroy) - Matt - Sam - Josh ("Wir sind kein Paar. Wir sind Forscher." 107) - Derrick.
"The german sailor" ertrinkt sich Respekt, lässt nichts anbrennen, erfriert zu Sylvester fast und steckt auch sonst jede Menge scheinbar ungerührt weg. Nur Kyle und die Pille danach scheint sie nachhaltig zu beschäftigen. Es wird unendlich viel gesoffen, gekifft und gefickt in Export A. Die Heldin richtet sich an Songtexten auf, wird von den Predigen des Pastors verwirrt, lässt sich von niemandem was sagen, weiß aber natürlich eigentlich nicht wirklich was sie will. Sie will ERLEBEN, das reicht auch als Lebensmotto für eine 16jährige in der Fremde. Warum sie zurückkehrt in die deutsche Geborgenheit, wie sie sich mit Schuld beladet, die ihr zu schaffen macht, sei hier nicht verraten.
Was aber an dieser Stelle laut gesagt gehört ist: Export A ist das überzeugendste Buch mit einer jugendlichen Heldin seit langem. Wie hier die Themen Erwachsenwerden, Einsamkeit, Freiheitsdrang und Schuld verhandelt werden, ist beispiellos. Grund dafür ist der Drang der Heldin zur Kompromisslosigkeit und zur Lust auf Neues sowohl den Inhalt, als auch die formale Umsetzung betreffend. Kränzler montiert munter drauf los, hat keine Scheu vor Experimenten, findet eindringliche Bilder, geht knüppelhart zur Sache, dann wieder samtweich poetisch. Das ergibt in Summe ein Romandebüt das eindringlich, ja, mitunter schmerzhaft ist aber einen so richtig gut trifft. Volltreffer und begeistertes Taumeln!