Ich sitze in Naryn, dem entlegensten Winkel der Erde, den ich bis dato in poetischer Mission aufgesucht habe und denke über die mediale Transformation der Lebenswelt nach.
Ich sitze in einem privat vermieteten Zimmer, spreche weder kirgisisch noch russisch und teile der Vermieterin vermittels Fingereinsatz meine Abreisezeit mit. Sie zückt das Smartphone und kommt nach Getippe schließlich zum gleichen Ergebnis: 10. Ja, 10. 2 mal Besch Barmak. Besh Barmak ist das kirgisische Nationalgericht, es heißt soviel wie fünf Finger, weil es mit den Fingern gegessen wird.
Ich sitze in Naryn, dem Verwaltzungszentrum des Oblasts der ebenso Naryn heißt, wie auch der Fluß, der durch die Stadt fließt, die schon einmal bessere Zeiten gesehen hat. Naryn besteht im Wesentlichen aus der Ulica Lenina, einer schmaleren Entlastungsgasse und einer Abzweigung. Klar: Moschee, Basar, Lenindenkmal und eben auch eine Universität mit Deutschabteilung.
Ich sitze in Naryn und bin überwältigt vom Naryn-Gebirge: auf einer Seite die perfekte Westernkulisse mit schroffen, rotbraunen Felsen, auf der anderen zuerst liebliche Hügel in grün, die übergehen in immer mächtigere Berge, die das ganze Jahr über schneebedeckt sind und dahinter blitzen aus der Ferne vergletscherte 5-6-7-Tausender. Das lässt selbst einen Tiroler-Bua nicht kalt.
Ich sitze in Naryn und erkläre einer Gruppe
Deutschstudentinnen, was ein Poetry Slam und was Slam Poetry ist,
dass Vergleiche nicht nur naturbezogen sein können, dass ein Gedicht
nicht nur ernst und streng gereimt sein muss, dass Poesie in allen
Dingen steckt, ja, sowohl im Smartphone als auch im noch blutigen
Schaffellhaufen der am Basar zum Verkauf angeboten wird. Ich werde
die Wichtigkeit und Tradition mündlicher Literatur hervorheben und
dabei wohl auf offene Ohren stoßen, zumal das Epos über den
kirgisischen Nationalhelden Manas ja auch ein Vortragstext ist, der
mit ähnlichen Techniken der Aufmerksamkeitsgewinnung arbeitet. Ich
werde sagen, dass Poetry Slam gewissermaßen der Minnesang von heute,
bzw. das Poetry SlammerInnen moderne Manastschys sein können.
(Manastschys = Erzähler des Manas-Epos). Ich werde die Studentinnen
dazu aufmuntern, lautmalerisch tätig zu werden, den Klang der
Sprache und den natürlichen Rhythmus thematisieren und, und, und...