Sonntag, 28. Februar 2010

Das Alphabet der Zeit


Gerhard Roth
wurde 1942 in Graz geboren. Er lebt als freier Schriftsteller in Wien und der Südsteiermark. Jede Menge Veröffentlichungen. Darunter der siebenbändige Zyklus Die Archive des Schweigens und Romane mit einem Kurzwort und dem bestimmten Artikel im Titel: Der See, Der Plan, Der Berg, Der Strom, … zuletzt: Die Stadt (über Wien!)

Das Alphabet der Zeit ist ein dezidiert autobiographisches Werk, die Erinnerung setzt 1945 ein, es gibt eine Grobeinteilung der jeweils recht kurzen Kapitel in: Prolog, Kindheit, Jugend, Tod, Anhang und Bilderzählung; Die erste Hälfte des Buches beschäftigt sich akribisch mit der Kindheit, der Herkunft des Autors.

Kindheit (Das Alphabet der Zeit bis Seite 199)

Die Erinnerung ist natürlich eine Verfälschungsmaschine, aber der Autor versucht mit äußerster Genauigkeit und unter Zuhilfenahme von Aussagen von Freunden, Familienmitgliedern... seine Geschichte zu rekonstruieren. ZB: „Günter Brus, der als Kind den Vorfall zufällig vom Balkon seines Großvaters aus mit dem Fernglas beobachtet hatte, wird mir die Ereignisse bestätigen, als wir vierzig Jahre später auf der Reise nach Amsterdam den Bahnhof passierten und ich anfing, darüber zu sprechen.“ (S. 11)

Er behauptet, keine Erinnerung an Wörter zu haben nur an Bilder (und die Bilder der frühen Erinnerungen sehe er nur in Schwarz-Weiß). Bilder, Fotos, das Panoptikum und natürlich das Kino spielen eine große Rolle in der Kindheit und Jugend des Autors. Fotos schieben sich an die Stelle von Erinnerungen, beeinträchtigen sie, ändern sie, machen sie zu Geschichte, zur Geschichte des Autors.

Und die Kindheit ist recht turbulent. Mehrmals ist der Erzähler dem Tod nahe. Ein Schlitten kann ebenso gefährlich sein wie eine Fotolinse. Von Gott und der Religion hält er von Kind auf nichts. Sein erster Gott war der Kuckuck in der Kuckucksuhr. Bedeutender sind Bücher. „Der Struwwelpeter“, „Max und Moritz“ und bald der Anatomische Atlas seines Vaters. Der ist Arzt und war im Dienst der Nazis, deshalb hat er in den Nachkriegsjahren keinen leichten Stand und muss aufs Land „Hamstern“ gehen (ohne amtliche Erlaubnis ordinieren und hoffen, dass die Bauern angemessene Lebensmittelbezahlung raus rücken), Gerhard assistiert, hilft schon mal beim Schweineschmalzdiebstahl, lernt so das Medizinerhandwerk kennen und ist selbst oft und gern krank. (Seine Eltern schoben alles auf die nahe „Mülldeponie und die Umstände“.) Der Kranke aber genoss die Aufmerksamkeit, die ihm so zuteil wurde.

Gerhard hat einen älteren Bruder (Paul, den Gerhard aus Neugier und weil er „so fasziniert von seinem Zappeln war“ fast einmal erwürgt hätte) und einen jüngeren (Hermann, der kaum eine Rolle spielt).


Ad Kindheit: „Vielleicht sind wir in unserer Kindheit auf andere Weise intelligent, schöpferisch und klarsichtig als im Erwachsenenalter. Wenn ich über diese Zeit schreibe, tauchen viele Einzelheiten auf, mag sein, dass es falsche Erinnerungen sind, aber selbst dann drücken sie etwas aus, das möglicherweise wichtiger ist als die vorgebliche Wahrheit...“ (S. 29)

Vertraute Situation 1: „Kerzen waren für mich der Inbegriff für eine unangenehme Situation – wenn zum Beispiel der Strom ausgefallen war.“ (S. 69)

Vertraute Situation 2 (über einen Nachbarsjungen): „Er war um fünf oder sechs Jahre älter als wir und hatte den Ruf eines wenig zartfühlenden Kindes.“ (S. 108)
Vertrautes Situation 3: „Noch oft habe ich unter der Eigenschaft gelitten, zu wissen, dass ich mir mit etwas schade, aber nicht anders zu können, als in mein Unglück zu laufen:“ (S. 194f)
Altbekanntes Trauma: „Mehrfach bemerkte meine Mutter, dass ich ohne den Tod Petrs nicht das Licht der Welt erblickt hätte. (Außerdem hatte sie sich, als sie mit mir schwanger war, ein Mädchen gewünscht.) (S. 123)