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Die Vermessung der Angst (gesehen in St. Veit an der Glan) |
Heute am Programm:
Impulsveranstaltung sprachsensibler Unterricht im Oberland-Saal in
Haiming in Tirol.
Die Geschichtsschreibung ist sich nicht einig, was
die Herkunft Haimings betrifft. Es gibt zwei Fraktionen. Die einen
meinen Haiming bestünde einfach aus dem gängigen Suffix Ing, das
natürlich für Ingenieurinnen und Ingenieure unterschiedlichster Art
steht. Und Haiming so schlicht die Heimstatt vieler Ingenieurinnen
und Ingenieure war. Vielen ist diese Erklärung zu einfach, die
graben tiefer und sind der Meinung, dass Haiming zur Zeit der
chinesischen Ming-Dynastie entstand, als Beweis dafür dient dieser
Ortsnamenerkundungsfraktion eine mit einem Hai verzierte Ming-Vase.
Aber darum soll es heute nicht gehen. Es geht um Auftakt und
Nachschlag, um zwei Texte zu Beginn und drei zum Abschluss, zum Thema
Sprache. Dazwischen gibt es einen Fachvortrag.
Das sind mir liebe
Aufträge. Ich werde den Auftragstext zum Thema erstmals frei
vortragen. Er heißt SMAT GUMF: Sprache mit alles to go und mit flow,
ist nicht ganz einfach und relativ lang (8 Minuten). Ja, ich bin
nervös. Bei Auftritten in Heimatnähe bin ich immer nervöser als
normal. Wird schon schief gehen.
Ich werde zwei
Stunden vor Veranstaltungsbeginn von meinem großen Bruder am Bahnhof
abgeholt. Wir sind früh dran, wir sind in Haiming, dem Ort, an dem
wir in den 1980er Jahren beim
Stigger Hosen und beim
Höperger
Fleisch in Großmengen kauften. Der Höperger ist jetzt ein Café,
eine Selchkammer ist der Raucherbereich noch immer. Noch zwei Stunden
bis Beginn.
Dann Technikprobe. Nein, kein Headset. Am liebsten Stativ
und Mikro mit Kabel, weil am wenigsten fehleranfällig. Wir haben nur
Funk. Gut, dann halt Funkgurke. Wird schon halten der Akku. Wird
schon keine Interferenzen geben (wird es dann doch gegeben haben,
egal). Nein, sonst brauch ich nichts. Danke. Noch eineinviertel
Stunden bis Beginn.
Ich habe nichts zu tun, ich kann nichts mehr tun.
Textproben geht jetzt nicht mehr, smalltalken fällt mir allerdings
auch schwer. Abwarten. Noch eine dreiviertel Stunde bis Beginn.
Die
Massen branden an. Verstecken ist auch keine Lösung. Ich kenne viel
zu viele, manche viel zu spät. Da kommt eine Ex, da ein Bruder von
einer ehemaligen Mitschülerin, da ein Mitschüler meines Bruders. Da
die Nachbarin aus dem Heimatdorf, da der Lehrer, bei dem ich schon
mal, dort die Direktorin, bei der ich auch schon mal... Noch eine
halbe Stunde bis Beginn.
Ich flüchte in die erste Reihe. Hinter mir
sitzt eine Leichtathletiktrainingspartnerin aus den 1980er Jahren.
Sie hat viel zu fragen. Immerhin weiß ich auf Anhieb ihren Vor- und
Hausnamen. Ich entschuldige mich und gehe an die frische Luft. Noch
zwanzig Minuten bis Beginn.
Oh ja, frische Luft tut gut. Es knistert
in der Nase, erst knistert's, dann fließt's. Ich habe Nasenbluten.
Ich habe nie Nasenbluten! Seit den 1990er Jahren nicht mehr. Da war's
eine Nebenwirkung der Aknekur Roacutan. Da war ich nicht ich. Da war
ich der, dessen Freundin aus jener Zeit jetzt im Publikum sitzt. Ich
sprinte aufs Klo, stille die Blutung. Dann wieder auf den Platz. Es
geht los.
Ich kippe meinen vorsorglich neben dem Stuhlbein
abgestellten Wasserbecher um. Rund um mich ein See. Textblätter
nass. Ich auch. Hose: blau, hat tiefblaue Flecken an delikaten
Stellen. Ach ja, Durchfall hab ich natürlich auch. Nicht jetzt, aber
schon den ganzen Tag. Na, was soll schon noch passieren? Klar,
ausgetrockneter Mund während des Vortrags. Lahme Zunge eineinhalb
Minuten vor Textende und kein Zwischenapplaus mehr in Sicht.
Höllenqualen. Da muss ich durch. Wenigstens hab ich den Text im
Kopf. Ich würge ihn mit am Gaumen klebender Zunge zu Ende.
Applaus.
Wa-sser. Wa-sser. Läuft. Jetzt kann's nur noch aufwärts gehen. Ich
genieße das Bad in der Menge, im Text, bin endlich im Flow. Schön
war's.