Montag, 26. November 2018

Joshua Cohen bei Anderswelten

Gestern war Joshua Cohen bei Literatur im Herbst im Odeon Theater. Gestern war auch DUM Präsentation im Anno. Klar, ich war im Anno. Klar, ich wäre gerne auch bei Cohen gewesen. Ilija Trojanow hat ihn vorgestellt und im Wespennest nicht wirklich positiv besprochen. Dem möchte ich meine Begeisterung entgegen halten und hier mein Lektüreprotokoll, so wirr wie das Buch irre ist, preisgeben.

Joshua Cohen beauftragt Joshua Cohen mit dem Schreiben einer Biografie. J. C. 1 Ist der Große Vorsitzende von „Tentration“ (nenn's Google). J.C. 2 ist ein Schriftsteller am absteigenden Ast, was seinen Zynismus nährt. Mit erfolgreichen Menschen – auch seinen Freunden, auch seiner Frau – hat er ein Problem, für andere – zB den neuen Schauspielerfreund seiner (Noch)Frau hat er nur Verachtung über. Drogen aller Art werden nicht als Problem wahrgenommen. Das gemeinsame Kind nicht als Möglichkeit eines Neustarts. Ein nachlässig geführtes Interview mit dem GroVo bringt ihn schließlich den Job ein, der alles ändern könnte, könnte er sich bloß ändern, dieser J.C.2. Dazu sieht er aber vorerst keine Veranlassung. Er sieht nur sich und findet sich gut. Nach Suchen ist ihm nicht. Suchen aber ist das große Geschäft von J.C.1., der sich seinen Ghostwriter nicht ohne Hintergedanken ausgesucht hat. Klar, der GroVo hat was am Kasten, ist Techie aber auch philosophisch und theologisch beschlagen, kommt aus gutem, spannendem Hause und hat in seinen Tonbandprotokollen viel zu sagen und zu berichten. J.C.1 ist zweifellos genial, das Hardware-Genie Mo bringt den nötigen Wahnsinn in die Story und in das Unternehmen und bis mal wer kapiert, was diese Freaks mit ihrem Algi vorhaben, machen andere Start-ups schon Millionen. Das kommt für Tentration auch noch. Dass wer sucht, von anderen gefunden werden kann, ist das big business: big data im alten Jahrtausend. Mo, der Tüftler, Bastler, Fernbedienungs- und andere Gerätschaften-Erfinder. J.C.1 der, der in der Wir-Form von sich spricht und für humanistisch-theoretisch-technologischen Hinterbau sorgt. Denn die studentischen Experimente führten nur deshalb nicht zum Rausschmiss, weil die M-Einheit (so wird die Mutter genannt), Uni-Prof und ein Heimkehren-immer-möglich war. Der Aufstieg gelang dann erst, als die Geldgeber ihre Bedingungen durchsetzten – einen Geschäftsführer, der sich wäscht und auftreten kann (Kar). Und weil am GroVo der Bauchspeicheldrüsenkrebs nagt, packt er aus und J.C.2 hat zu transkribieren.
1 – 0 – 1 so ist das Buch der Zahlen unterteilt. Der mittlere ist die Tonbandtranskription. Im ersten die Einführung J.C.2 und im dritten Ava's (Frau von J.C.2) Blogeinträge, diverse Mails an den Abgetauchten J.C.2 und dessen Trip von Dubai nach Berlin, Frankfurt, Wien, die geschlagene, verschleierte Frau und J.C.2s-Heldenaktion inklusive erneutem Seitensprung wäre noch zu erwähnen. Die Buchmesseneskapade oder auch der Tod seines Agenten und und und. Der Y2K Bluff, die diversen Vorgeschichten, das Jüdische, Buddhistische, Hinduistische, anderweitig Metaphysische...
Formal gibt es: Mails, Blogeinträge, Transkriptionen, Romanauszüge, Mitschriften von Museumsführungen, Zitat aus Forschungsliteratur, Gestrichenes, noch Auszuarbeitendes, …
Inhaltlich: Suff, Sex, Gewalt, Genialität, Wahnsinn und Überwachung, Stadt, Macht und Kontrolle...
Da wird aus einer Wissensfülle geschöpft, die platt macht und auch poetisch besticht. Die Sprache ist so was von auf der Höhe der Zeit und vom klassischen Literatursound wohlig abgespeckt – da spritzt das Fett (=Wortgeschmacksverstärker) bloß so...
Alles drinnen in diesem Buch und dann noch funkelnde Details und generell brillantes Schreiben, egal, um was es grad geht. Mutig, frech, klug, unantastbar ist das, unerreichbar. Kein Nach-unten-treten vielmehr ein Den-Mächtigen-die-Stirn-bieten. Keine Angst vor gar nichts aber alles können und sich erlauben und es dabei nicht unlesbar heraushängen lassen.
Ein Ziegel, ein gewichtiges, wichtiges Stück extrem aktueller Literatur mit Vexierspiel- und Schlüsselromanmomenten. Weltliteratur – the hottest shit you can get 2018. Kniefall, Bewunderung, Perplexität und große Freude!