Donnerstag, 26. November 2020

Foltermethoden für den Hausgebrauch

oder don't try this at home

3. Lektüreprotokoll am 10. Lockdowntag

Wer oder was oder wo Demmin ist, muss man gar nicht wissen. Gespenster können überall aufmarschieren, wenn man daran glaubt, über all und nirgends, wenn man nicht daran glaubt. Die Gespenster im Demmin Fall sind allerdings historische Gespenster, die Spuren hinterlassen haben, in Erzählungen und Registern. Aber auch das ist vorerst gar nicht so wichtig. Der schwarze Schwan jedenfalls ist keines dieser Gespenster, der war zwar böse, ist aber dann im See festgefroren und unsere Heldin hätte ihn gerne befreit, hat sich also auf dünnes Eis begeben und... verrat ich nicht. Höchste Zeit, die Heldin vorzustellen. Sie heißt Larissa, möchte Larry genannt werden, ist 15, hat eine beste Freundin (Sarina), hat eine Mutter (Krankenschwester und auf der Suche nach einem Ersatzvater), hat eine Nachbarin (über 90 und spooky), hat schon auch einen richtigen Vater (LKW-Fahrer), einen Job (auf dem Friedhof) und sehr eigenartige Hobbys. Die haben mit ihrem Berufswunsch zu tun: Kriegsreporterin.

Um diesen Job ausüben zu können, muss sie knallhart werden. Sie härtet sich also ab: sperrt sich in eine Streugutbox ein, hängt Kopfüber vom Apfelbaum, probiert mit einem Freund Waterboarding aus, ach ja, dieser Freund. Der heißt Timo (Schule geschmissen, arbeitet jetzt bei Netto) und in den wäre eigentlich Sarina verknallt, aber mit Larry verbindet ihn mehr. Was? Auch das sei hier nicht verraten. Larrys Bruder ist von einem Radfahrer überfahren worden, als er drei und sie noch im Bauch der Mutter war. Das hielt die Beziehung nicht aus. Larry mag ihren Vater, hat aber was gegen die Ersatzväter, die ihre Mutter anschleppt. Vor allem, wenn diese auch noch mit Sack und Pack einziehen, wie das im Fall von Benno (Motorradfahrer, Band-T-Shirt-Träger) passiert.

Ganz schön viel, möchte man meinen, vor allem, wenn man dann auch noch die Geschichte Demmins (Mai 1945), auch die breite ich an dieser Stelle nicht weiter aus, hinzu fügt. Dennoch: Das Debüt von Verena Kessler hat nichts Schweres. Das hat mit der Leichtigkeit, mit der Unbeschwertheit der Erzählerin zu tun. Dieser 15jährigen folgt man gerne. Man zittert mit ihr, wenn sie wieder mal einen Kältetest über sich ergehen lässt. Man fiebert mit ihr, wenn sie das Bett hüten muss, weil sie es mit einem Härtetest zu sehr übertrieben hat. Man hält ihr die Daumen, dass mit Timo was weiter geht. Man hofft, dass ihre Beine Halt genug geben, wenn sie Kopf über vom Brückengeländer hängt. Man hat Einblick in einen Teenager, der es nicht ganz leicht hat, es sich aber nicht sonderlich anmerken lässt. Klar, die Eskapaden sind Folgen von diversen Traumata und (Liebes-)Entzugserscheinungen. Aber als Teenager kommt man damit irgendwie klar. Und dieses Irgendwieklarkommen ist sehr spannend. 

Der pfiffigen Ich-Erzählerin wird als Gegengewicht die Erzählung der alten Nachbarin aus personaler Perspektive gegenüber gestellt. Das ist wohltuend im Lesefluss. Die Kapitel sind angenehm kurz und perfekt quergeschnitten. Man erfährt ein Stück Zeitgeschichte, man taucht ein ins Leben einer 15- und einer 90jährigen, liest und liest und hat schließlich einen Roman einer jungen Autorin gelesen, die nicht davor zurück schreckt, schwierige Stoffe zu behandeln, da sie das nötige sprachliche Feingefühl und Können besitzt, selbst die härteste Geschichte so zu verpacken, dass sie für alle ein Geschenk ist.

Verena Kessler: Die Gespenster von Demmin (Hanser Berlin 2020)

Dienstag, 24. November 2020

Fast super

1. Lockdownwoche - 2. Lockdownlektüreprotokoll

Ein toller Titel, ein mir unbekannter Verlag und Autor, der aber – mit diesem Buch – schon den dritten Roman vorlegt und aus Osttirol kommt. Das scheint mir doch eine perfekte Lockdown-Lektüre zu sein. Fasthuber hat neulich eine ganze Seite darüber im Falter gemacht. Doris hat das Buch schon vorher, als es noch erlaubt war, in Buchhandlungen zu gehen, in der Lerchenfelder Buchhandlung entdeckt, gekauft und angelesen und gemeint, dass das etwas für mich sein könnte, denn es gehe um Herkunft, Provinz und Jugend. Alles richtig.

Der Held heißt Romed, wohnt in einem 400 Höhenmeter von Lienz entfernten Dorf und wir begleiten ihn gut ein Jahr lang. Ein besonderes Jahr. Romed steht die Matura bevor, ihm steht sein erstes Mal Sex bevor, er wird vom Kampfsportler zum Kampftrinker, vom kalkulierenden Gymnasiasten zum willigen Ferialarbeiter, vom Mofafahrer zum Autostopper, vom Kassetten-Verchecker zum Konzertveranstalter, vom peinlich Rumknutscher zum Kamasutrapraktikanten und vom Teenager, dem alles verziehen wird, zum rebellischen Zivildiener. Ein ereignisreiches Jahr. Fast zu viel für ein Jahr in der Provinz. Man hat das Gefühl, da stecken Erlebnisse aus der ganzen Oberstufe in dieser linearen Erzählung. Schnitte hätte dem Roman gut getan. Eine starke Frauenfigur hätte dem Roman auch gut getan. Denn die Helden sind hier eindeutig die Männer, die Burschen, die Bubis. Das mag zwar sehr der Realität der 1990er Jahre in Osttirol entsprechen, aber um historische Authentizität geht es ohnehin nicht.

Um was geht es? Natürlich ums Erwachsenwerden. Um das Eintauchen in die frühen 1990er Jahre. Da leistet der Roman ganze Arbeit. Auch wenn man es selbst anderes erlebte, öffnet der Text Erinnerungsräume und lässt einen diese, mal fröhlich, mal peinlich berührt, betreten. Die Schulzeit – vor allem das Lernen auf die Matura – wird äußerst präsent. Die diversen Nöte sind evident. Der Übermut, die Ungeduld, das Nicht-besser-Wissen und Noch-nicht-Wissen-was-genau-Wollen wird ohne WHAM! Und ABBA transportiert. Natürlich kommen Romed und seine Kumpels ohne Hitparadenmusik aus, sie sind anders. Aber ganz raus aus den Strukturen kommen sie doch nicht. Sie strampeln. Sie tanzen Pogo. Sie grölen Punklieder. Sie arbeiten daran, gute Menschen zu werden, die nur mal eben testen müssen, wie viel Bier sie vertragen, wo, wie und mit wem sie leben wollen und was sie eigentlich machen wollen. Normale Teenagernöte flüssig, ja, süffig aufbereitet.

Es gibt eine Fußnote im gesamten Text, im ersten Kapitel. Darin wird erklärt, dass zum besseren Leseverständnis, alles in Euro angegeben wird, was mit Geld zu tun hat. Das ist ein krasser Illusionsbruch. Das tut einem Leser, der selbst in den 1990er Jahren das Trinken lernte, weh. Das ist eine schmerzliche Fehlentscheidung, die sich leider durch den ganzen Text zieht und immer wieder unangenehm aufstößt. Dabei ist der Text sonst über weite Strecken super zu lesen. Moser-Sollmann erzählt souverän, rasant und man folgt dem Leben des vermeintlichen Taugenichts gern. Vor allem, wenn er nicht über Mädchen schreibt. Denn da geht nicht nur für Romed, sondern auch für den Erzähler viel schief. Die Mädchenfiguren sind austauschbar, in der direkten Rede klingen sie nach Bravo-Dr.-Sommer und eine tragende Rolle hat lange keine. Beim Zivildienst nur männliche Arschlöcher, die besten Freunde Sid und Breiti, der Musik-Magazin-Herausgeber und Harley-King Moritz, als Nachbarn in der Pfadfinder-Bude Burschenschafter und sonst richtet es auch eher der Papa als die Mama. Der Ich-Erzähler ist im Aufdecken von Rassismen bei seinen Arbeitskollegen sehr gewandt, gibt sich generell open-minded, kritisch und ist ein wacher Geist, wenn er nicht gerade diverse Drogenerfahrungen machen muss, das Frauenbild aber ist erschreckend eindimensional. Das ist schade und macht den Roman leider nicht zu einem Bedenkenlos-zu-Weihnachten-an-Freunde-Verschenk-Buch.


Christian Moser-Sollmann

Ohne WHAM! und ABBA

Dachbuch Verlag 2020

Freitag, 20. November 2020

Ganz schön frech am Lesofantenfest

Eine Mitmachlesung für die ganze Familie von mir für euch! Im Rahmen des Lesofantenfestes 2020 ist dieses Video entstanden. Publikum war keines erlaubt. Das Publikum seid ihr! Ich habe aus "Ganz schön frech. 52 Gedichte für die ganze Familie" gelesen. Die Illustrationen stammen von Robert Göschl. Ein Buch, das sich perfekt als Weihnachtsgeschenk eignet. 

Mittwoch, 18. November 2020

Lockdownlektüre

 2. Lockdown-Tag - 1. Lockdown-Lektüreprotokoll

PARK von Marius Goldmann (edition suhrkamp 2020)

Ein Debüt eines 1991 Geborenen, der in Hildesheim studierte, soll das erste Buch im zweiten Volllockdown sein. Eine gute Wahl, ein schönes Buch (rein äußerlich, ich mag die edition-suhrkamp-Schlichtheit, wobei diese Buch eh mit einem tollen Schutzumschlag ausgestattet ist - siehe Foto), ein geglücktes Debüt. Der Klappentext spricht von "literarischem Wagemut" und meint damit wohl auch, dass der junge Autor die Leserinnen und Leser spüren lässt, dass sie - ich! - alt sind, dass es aber dennoch gelingt, davon nicht abgeschüttelt zu werden. Die 40jährigen sind in diesem Buch die Alten, die komische Dinge machen. Das führt Goldhorn fein vor und er hat ja auch recht. Dennoch bedient er diese Leserinnenschicht schon auch, denn seine Lektüre sind lauter Klassiker des 20. Jahrhunderts (von Brinkmann, Fichte, Plath bis Pessoa, K. Dick und Ujvary). Diese Namen werden nebenbei gedropt, der Held - Arnold - liest darin und am ehesten fließen noch Pessoa-Spuren dann auch in den Text bzw. die Gedanken Arnolds ein. Arnold ist sensibel, am Puls der Zeit und klassisch gebildet. Er ist auf jeden Fall nicht arm und steht noch nicht ganz im Leben aber auch nicht ganz daneben. Er wird dann wohl mal ein Buch schreiben. Noch wohnt er in Berlin, Moabit und lässt das Leben auf sich zu kommen. 

Eine WG-Party beschert ihn die Bekanntschaft mit Odile. Daraus wird dann schnell mehr, so schnell, dass ein halbes Jahr viel zu schnell vorbei und Odile dann nach London gehen - Kunst-Uni-Ding - und Arnold wieder alleine klar kommen muss. Er spürt sich eh - da ist ein Ausschlag auf seiner Brust, der juckt, also ist er da, in der Gegenwart. Obwohl er das Abdriften in Träume schon sehr gerne macht und nichts dagegen hätte, interessierten sich Aliens für ihn. Er selbst hat breit gestreute Interessen, liest nicht nur, sondern wählt auch die Musik, die er hört sorgsam aus, kann mit bildender Kunst was anfangen und Filme, Filme sind sowieso Vorbild in vielen Belangen. Trifft sich gut, dass Odile Filmerin ist. Ein Film-Projekt in Athen wird sie schließlich wieder zusammen bringen. Aber mal langsam.


Park ist in vier Kapitel gegliedert, die zeitlich so anzuordnen sind: 2, 1, 3, 4. Wir lernen Arnold in Paris kennen, da landete er, weil er einen billigen Flug nach Athen wollte, und den Aufenthalt in Paris gerne in kauf nahm. Im zweiten Kapitel erleben wir das Kennenlernen und Liebenlernen in Berlin. Dann das Wiedersehen in Athen und schließlich ein düsteres Ende in einem Flughafenhotel (Überbuchung!) bei Stromausfall. 

Ganz selbstverständlich schauen alle immer auf ihre iPhones, lesen Wikipediaartikel, schauen Youtubevideos und texten sich selbst, wenn sie gemeinsam an einem Tisch sitzen. Es wird sich auch eher über skurrile Netzkuriositäten unterhalten als über vor Ort Passierendes, da ist die Standardantwort dann doch oft: "Keine Ahnung". Und es ist auch okay, noch nicht viel Ahnung vom Leben zu haben. Die Figuren in diesem Roman sind aber wenigstens auf der Suche. Sie sind neugierig und üben sich in Weltgewandtheit. Besser als die Biedermeierei die grad unter Jungen grassiert. Was anscheinend immer gleich bleibt, ist der Ablauf von WG-Partys. Nicht mal die Drogen ändern sich groß. Da kann der 45jährige sagen: Ja, so war das in den 1990er Jahren auch schon. Und ein selbstbewusster Mittzwanziger hört darüber gnädig hinweg. 

Park ist im Ton souverän. Park will nicht zu viel, aber das hat er voll drauf. Liebe ist kompliziert aber schön, das kann man nicht oft genug zeigen. Als Demo-Tourist in Athen lernt man allemal mehr als in Zoom-Sessions. Alten Männern Geld abzuknöpfen, ist in Ordnung, auch wenn die eher an körperlichen als an geistigen Diensten interessiert sind. Aliens sind nicht die schlechtesten Menschen. Zock-und-Kiff-Freundinnen und Freunde brauchen alle. Und mal auf die Schnauze zu kriegen, hilft dann doch mehr sich zu verorten und zu spüren, als ein Ausschlag auf der Brust.

Darf's ein bisserl mehr Leben sein? Ja, Arnold würde zwar selbst nicht fragen, aber er versteckt sich auch nicht nur in seiner Bude und im Netz. Arnold reiht sich immerhin ein in die Schlange an der Wurstthekte des Lebens und wenn er dann dran ist, sagt er vermutlich: Keine Ahnung. Aber er war da und vielleicht geht er mit der Hinterfrau dann sogar auf ein Dosenbier im Park. Sehr sympathisch. Prost!