Montag, 26. April 2010

Kausalkettenkarussell


fern bleiben. Ulrike Ulrich, Luftschacht 2010

Lo besteigt einen Zug und reist rum. Lo ist Mitte Dreißig, mit Wissen beschlagen und belesen aber im zwischenmenschlichen Bereich noch auszubildend. Ein Quiz beschert ihr finanzielle Unabhängigkeit, sie nützt diese Freiheit und Gelegenheit, lässt Arbeit und Freunde zurück und fährt erst mal nach Rom und dann weiter, weiter, um nirgends anzukommen, in keiner Stadt zu übernachten, es sei denn, es gibt da einen David oder so (aber dazu sei an dieser Stelle nicht mehr verraten).

fern bleiben spielt in einer vertrauten Zeit, die trotzdem schon ferner scheint, als sie ist. In Zügen darf noch geraucht werden, die Frauenkirche in Dresden ist noch eine Baustelle und Angela Merkel noch nicht Kanzlerin. Lo flunkert Schweizer Zollbeamte an, trinkt mit serbischen Schlafwagenschaffnern Rotwein, lässt einen Desertstorm GI ein eye auf ihren Rucksack haben, ruht sich auf der Schulter eines französischen Bassisten und Bäckers aus und verbringt eine paar Zugkilometer mit dem Poetry Slammer Thomas (der natürlich an einem Roman schreibt und gleich flatter- und sprunghaft ist wie Lo).

Lässt sich anfangs „Nicht-Intervention“ als Los Lebensmotto heraus lesen, so wandelt sie sich im Laufe der Reise langsam. Überrascht durch Spontaneität und Mut zu guten Taten. Lourdes-Wasser ins Tessin zu bringen, ist da noch eine der kleineren. Ein Café mit Buchhandlung und Bühne auf zu machen, wäre ein Grund irgendwo zu bleiben. Da ist aber noch eine andere Möglichkeit. Diese Kolumne für das Reisemagazin, die ihr die Reisebekanntschaft Julia angeboten hat. Vorerst aber wird weiter gereist. Warum? „Bloß weil sie schon wieder etwas leidlich Besonderes tun will. Bloß damit sie beim Frühstück danach erzählen kann.“ (S. 150, das bezieht sich übrigens auf Nachtschwimmen in Stella Mare, Italien)

Nein, so einfach ist das nicht. „Und potenzielles Glück ist überhaupt das verlässlichste.“ Los Reisen ist eine Schnitzeljagd und ein Ausschauhalten nach Zeichen. Nebenbei werden große Themen sprachlich sensibel und durchaus gewitzt abgehandelt. Die Heldin hat einen Sinn für Sprache und ein deklariertes Wortfaible. Sie sammelt Wörter auf einer Liste, Lebensmensch beispielsweise ist auf dieser Liste.

fern bleiben kann durchaus als Superlativ von „fern sehen“ betrachtet werden, „fern sein“, wäre dann vielleicht der Komparativ. Wie das zu verstehen ist? Da muss eingetaucht werden in Los Welt. Buch aufschlagen, Welt ausknipsen, für ein paar Stunden fern bleiben und sich gut aufgehoben fühlen zwischen den Zeilen, in den Kapitelabteilen und den Schriftzügen dieser wunderbar leichten, feinsinnig poetischen und sprachverliebt unterhaltsamen Geschichte.