oder don't try this at home
3. Lektüreprotokoll am 10. Lockdowntag
Wer oder was oder wo Demmin ist, muss man gar nicht wissen. Gespenster können überall aufmarschieren, wenn man daran glaubt, über all und nirgends, wenn man nicht daran glaubt. Die Gespenster im Demmin Fall sind allerdings historische Gespenster, die Spuren hinterlassen haben, in Erzählungen und Registern. Aber auch das ist vorerst gar nicht so wichtig. Der schwarze Schwan jedenfalls ist keines dieser Gespenster, der war zwar böse, ist aber dann im See festgefroren und unsere Heldin hätte ihn gerne befreit, hat sich also auf dünnes Eis begeben und... verrat ich nicht. Höchste Zeit, die Heldin vorzustellen. Sie heißt Larissa, möchte Larry genannt werden, ist 15, hat eine beste Freundin (Sarina), hat eine Mutter (Krankenschwester und auf der Suche nach einem Ersatzvater), hat eine Nachbarin (über 90 und spooky), hat schon auch einen richtigen Vater (LKW-Fahrer), einen Job (auf dem Friedhof) und sehr eigenartige Hobbys. Die haben mit ihrem Berufswunsch zu tun: Kriegsreporterin.
Um diesen Job ausüben zu können, muss sie knallhart werden. Sie härtet sich also ab: sperrt sich in eine Streugutbox ein, hängt Kopfüber vom Apfelbaum, probiert mit einem Freund Waterboarding aus, ach ja, dieser Freund. Der heißt Timo (Schule geschmissen, arbeitet jetzt bei Netto) und in den wäre eigentlich Sarina verknallt, aber mit Larry verbindet ihn mehr. Was? Auch das sei hier nicht verraten. Larrys Bruder ist von einem Radfahrer überfahren worden, als er drei und sie noch im Bauch der Mutter war. Das hielt die Beziehung nicht aus. Larry mag ihren Vater, hat aber was gegen die Ersatzväter, die ihre Mutter anschleppt. Vor allem, wenn diese auch noch mit Sack und Pack einziehen, wie das im Fall von Benno (Motorradfahrer, Band-T-Shirt-Träger) passiert.
Ganz schön viel, möchte man meinen, vor allem, wenn man dann auch noch die Geschichte Demmins (Mai 1945), auch die breite ich an dieser Stelle nicht weiter aus, hinzu fügt. Dennoch: Das Debüt von Verena Kessler hat nichts Schweres. Das hat mit der Leichtigkeit, mit der Unbeschwertheit der Erzählerin zu tun. Dieser 15jährigen folgt man gerne. Man zittert mit ihr, wenn sie wieder mal einen Kältetest über sich ergehen lässt. Man fiebert mit ihr, wenn sie das Bett hüten muss, weil sie es mit einem Härtetest zu sehr übertrieben hat. Man hält ihr die Daumen, dass mit Timo was weiter geht. Man hofft, dass ihre Beine Halt genug geben, wenn sie Kopf über vom Brückengeländer hängt. Man hat Einblick in einen Teenager, der es nicht ganz leicht hat, es sich aber nicht sonderlich anmerken lässt. Klar, die Eskapaden sind Folgen von diversen Traumata und (Liebes-)Entzugserscheinungen. Aber als Teenager kommt man damit irgendwie klar. Und dieses Irgendwieklarkommen ist sehr spannend.
Der pfiffigen Ich-Erzählerin wird als Gegengewicht die Erzählung der alten Nachbarin aus personaler Perspektive gegenüber gestellt. Das ist wohltuend im Lesefluss. Die Kapitel sind angenehm kurz und perfekt quergeschnitten. Man erfährt ein Stück Zeitgeschichte, man taucht ein ins Leben einer 15- und einer 90jährigen, liest und liest und hat schließlich einen Roman einer jungen Autorin gelesen, die nicht davor zurück schreckt, schwierige Stoffe zu behandeln, da sie das nötige sprachliche Feingefühl und Können besitzt, selbst die härteste Geschichte so zu verpacken, dass sie für alle ein Geschenk ist.
Verena Kessler: Die Gespenster von Demmin (Hanser Berlin 2020)