Dienstag, 26. Februar 2013

Vodka, Puschkin und Kampfbrüste

Von der Landschaft sehen wir (an TAG 5) wieder nichts. Erstens Fensterstores, zweitens Sonnenblenden (obwohl keine Sonne weit und breit), drittens beschlagene Fenster (ob wir so ausdünsten? Schaschlikschweiß?), viertens draußen graue Nebelsuppe. Also stecken wir unsere Nasen in Bücher. Ich lese den Reiseführer und decke Murats Schwächen auf. Unser Abteil verfügt über zwei Bildschirme (gottlob aus!) und zwei Mitreisende, die sich erfreulich ruhig verhalten und meist ohnehin im Gang stehen. Vielleicht riecht doch der Krautsalat von gestern in unseren Rucksäcken etwas streng.
Der Bahnhof ist schön aber tot. Im letzten Eck eine Bar. Café möchte ich es nicht nennen. Denn es gibt keinen Tee – dass uns das in Mittelasien einmal unterkommen würde, hätten wir nicht gedacht – und den Löslichkaffee veredelt der Bartender mit massig Zucker. Selten so geekelt. Aber die Sucht macht's möglich auch diese Plörre zu trinken. Wir verstehen keine Durchsage, wir können keine Anzeigetafel lesen, wir sind Idioten, aber wir haben unsere Tickets und Pässe ja schon mehrmals vorgewiesen und gestempelt gekriegt und ohne uns fährt der Zug sicher nicht ab (was auch für den Flieger am nächsten Morgen gelten sollte). Wir fahren 1. Klasse, der normale Zug ist eineinhalb Stunden länger unterwegs und kostet nicht viel weniger (50.000 hin – 40.000 zurück) als der flotte „Afrosiyob“ (was übrigens einfach der alte Name für Samarkand ist).
Zurück in Tashkent geben wir uns abgebrüht, begegnen der Taxifahrermeute abgeklärt und verhandeln erfolgreich. 5000 statt gewünschte 5 Dollar. Im Hotel wissen sie diesmal zwar von uns, kopieren aber wieder fleißig und umständlich unsere Pässe und der Anruf, der dann kommt, hat hohen Unterhaltungswert.
Weibliche Telefonstimme: „(…) Where did you stay the days before yesterday?“
Ich: „In this house.“
Weibliche Telefonstimme: „Where is this?“
Ich: „?!? - in this hose?! Hotel Shodlik Palace!“
(…)
Aber hier leben – nein, danke!, singen Tocotronic und sie haben damit sicher nicht Tashkent gemeint, aber kommen mir wohl deshalb in den Sinn, weil „Kapitulation“ im Goethe Institut zum Ausleihen aufliegt. Wir marschieren pünktlich um zehn Minuten vor Lesungsbeginn ins GI ein. Die Gastgeberinnen warten bereits seit einer Stunde mit Kaffee und Keksen, über die wir uns dann auch gleich hermachen (also die Kekse und den Kaffee, nicht die Gastgeberinnen). Gerne hätten uns die Gastgeberinnen zum Essen geladen, aber danach mussten sie zu ihren Kindern, davor waren wir noch nicht und am Tag drauf sind wir nicht mehr da. Gehen wir halt selbst essen, zum Araber. Sehr okayer Vorspeisenverzehr. Unterlage für ein Vodkagelage ist das natürlich keine. Doch Vodka will sein! Viel! Viel und mehr. Auweia!
Im Green House, unweit vom Georgier, sind wir zwar die einzigen Gäste, aber das stört uns nur wenige Vodka lang. Es wird hitzig debattiert, von der Hausmatrone Puschkin rezitiert und russisch karaokt, dass die Schwarte kracht. 
Ad Hausmatrone: Lederstiefel bis zum Knie, schwarz Leggin, schwarzes Oberteil und drüber ein weißes, grobmaschiges Häkelkleid. 60 Jahre, Kampfbrüste, durchaus etwas Transiges, Verruchtheit zum Quadrat, ein kehliges „Icchliebe dicch“, stets parat, routinierte Moves, die die Textzeilen unterstreichen, die Brüste beben und die Zuschauenden erschauern lassen. Ein lasziv roter, zum Lippenstift passender Funkmikroploppschutz, gewolltes Übersteuern, verstörende Tanzeinlagen, trashig, peinlich, unglaublich. Nüchtern nicht denkbar – betrunken das i-Tüpfelchen von kultig.
Dass die dralle Lolkalheroine während ihrer Performance mit ihrer Linken zärtlich ihre Lesebrille umschließt, die sie sich nach ihrem Auftritt wieder inst Gesicht hängt, um nicht auf den Türstock zu donnern, hat etwas das Gesamtbild für immer einzigartig Abrundendes und lässt mich ergriffen glucksen
Um unser Wohlbefinden sind insgesamt drei Damen bemüht. Die blonde Koreanerin, die am Ende des Abends geheiratet werden wollte, schenkt Vodka ein. Die junge Usbekin bringt Bier und frische Aschenbecher und die alte Chefin ist schlicht eine Nummer für sich. Ein Mann kommt erst ins Spiel, als es ums Zahlen (und Heiraten der Vodkakoreanerin) geht, was wir nicht ganz können (beides). Gut, dass man den Vortrinker und DAD-Lektor Matthias bereits kennt, so bleiben uns blutige Nasen und trockene Kehlen trotz leerer Taschen erspart. Denn der Mann ist zwar klein und spärlich beflaumt aber ein Messer kann er sicher halten, lenken und versenken. Man kennt das ja aus Filmen, die nicht immer schlecht sein müssen. Danach Bewusstlosigkeit bis 7 Uhr 45.