Freitag, 13. September 2024

Usbekistan calling


Usbekistan (Land der Usbeken) "-stan" heißt Land oder Platz. Usbekistan ist ein säkularer islamischer Staat. 90 Prozent der Usbek*innen sind sunnitische Muslime. Der Islam ist gemäßigt. Der Kapitalismus stärker. Es gibt aber auch Sufis, die wollen die Kluft zwischen Gott und Mensch überwinden und sogenannte Feueranbeter, die sich zum Zoroastrismus bekennen. Aberglaube ist präsent. Magische Augen sollen gegen den bösen Blick schützen. Aus alten Bauwerken ragen vorsätzlich Pfähle, die Geister fernhalten sollen, weil Geister nur fertige Bauwerke in Besitz nehmen. 

Es gibt das neidische Auge, das zweifelnde Wort und den bösen Blick. All das ist bei der Kinderwiegenfertigung zu beachten. Die Kinderwiegen mit dem Kotloch, in die die Kinder reingewickelt werden, dass sie sich nicht bewegen können. Mittlerweile nicht mehr ganz unumstritten, aber immer noch ein Schlager und eine usbekische Besonderheit. Mein persönlicher Touristguide zeigt mir ein youtube-Video, in dem genau gezeigt wird, wie man die Kinder vor allen möglichen Geistern schützt und dann richtig in die Wiege reinschnallt.

Von Wüste und Steppe in der Stadt natürlich keine Spur. Ob hier in den Parks irgendwo Saxaulsträucher, Tamarisken, Sandried oder Sandakazien stehen, ich weiß es nicht. Mir fallen vor allem die Nussbäume auf und die Nüsse den parkenden Autos auf die Dächer. Es hagelt Nüsse. Gute Nüsse. Weiter so. Manty regnet es nicht. Die sind eher selten. Bis dato habe ich noch keine mit Fleisch gefüllten Teigtaschen zu mir genommen. Sehr wohl aber Plov in diversen Varianten, Lagman, Shurpa und Schaschlik. Fleisch ist da immer und überall auch im Borschtsch. Wenn du versuchst, kein Fleisch zu essen, isst du im Laufe des Tages noch immer Fleisch genug. Denn es tarnt sich geschickt: mal im Blätterteigmantel, mal in der vermeintlichen Gemüsesuppe, mal im süß ausschauenden Mürbteigpolsterzipfelchen.
 
Die großen Flüsse Amudarja, Syrdarja und Serafshan kenne ich nur aus dem Reiseführer. Da stehen auch Dinge über heftige Winde, Sandstürme, Trampelpfade, Wüstenpisten und Schlammfurten. Schöne Wörter aber für mich Stadttouristen nicht von Belang. Zum Grenzfluss im Süden - zum Amudarja, komm ich ebensowenig wie zum Grenzfluss im Norden, dem Syrdarja. Nicht einmal den Taschkenter-Fluss Tschirtschik bekomme ich zu Gesicht, nur den Verkehrsfluss beziehungsweise dessen Nichtfluss. Von der Versalzung des Grundwassers lese ich. Das Wasser mit dem ich in Kontakt komme ist stark gechlort. Im Hotel gibt es Pool, Jacuzzi, Dampfbad und Sauna. 

Der Aralsee ist weit weg von Taschkent und war mal der viertgrößte Binnensee der Erde. Der war 120mal so groß wie der Bodensee. Jetzt ist er ein kümmerliches Restchen seiner selbst. Die Zubringerflüsse versickert. Aus dem See wurde Wüste. Die Aralkum. Alles versalzt. Landwitschaft ist unmöglich, Leben auch. Die Schiffswracks die lange dekorativ für Fotos in verlandeten Gebieten zu bestaunen waren, sind längst abtransportiert, der wertvolle Schrott von Chinesen gekauft. 

Usbekistan ist ja reich an Bodenschätzen: Erdgas, Kupfer, Uranium und vor allem Gold. Das mit der Baumwolle war einmal. Freilich baut man noch immer an. Aber das war ein großer sowjetischer Masterplan, der nicht ganz aufging und viel zerstörte. Neulandgewinnung war die Devise. Intensiver Kanalbau und industrielle Baumwollegewinnung. Auf Gedeih und Verderb. Mit vollem Einsatz der Bevölkerung. Vor der Ernte wurden die Felder von Flugzeugen mit Herbiziden besprüht, um die Stäucher zu entlauben. Die Baumwollmonokultur führte zur Bodenüberlastung. 

Hier noch ein paar angelesene Baumwollfakten: Um eine Tonne Baumwolle zu ernten, muss ein Pflücker zweihunderttausendmal die gleiche Handbewegung machen. Pro Tag erntet ein Mensch etwa siezig bis achtzig Kilo. Aus hundert Kilo Rohbaumwolle gewinnt man im Durchschnitt vierzig Kilo Fasern, zehn Kilo Baumwollöl (für technische Zwecke aber auch für Nationalgerichte), dreißig Kilo Samenpressrückstände (Viehfutter) und zwanzig Kilo Kapselschalen. Dass Baumwolle für die Landwirtschaft große Bedeutung hatte, kann man noch in einer Metrostationgestaltung sehen und zwar in Paxtakor. 

Was man auch überall sehen kann ist der legendäre Vogel Semurg, das Symbol der usbekischen Wiedergeburt. Der Semurg ist ein Kranich, den kannte ich gar nich. Fettschwanzschafen bin ich persönlich auch nur in der Lektüre begegnet, finde sie aber des Namens wegen schon sehr aufregend. Zu Lamm hat man hier ja schnell eine enge Beziehung. Womit wir schon wieder beim Essen wären. Was ich gar nicht so häufig mache. Denn das überraschungsreiche Frühstück sowie eine warme, üblicherweise üppige Hauptspeise reichen aus, wenn man nicht 12 Stunden Baumwolle pflückt, sondern nur ein paar Stunden durch die Stadt marschiert, Fotos und Notizen macht.  


Taschkentgültiges und Nichtiges

Manche Häuser hier schauen aus, als wären sie von Betonkraken in die Arme genommen oder von Mörtelaliens überfallen worden. Ich finde ja das schön, das in den Reiseführern nicht zu lesen und von den lokalen Guides auch nicht zu hören und kriegen ist. 

Ich mache mich auf eigene Faust auf und ergehe mir die Stadt. Das ist in Taschkent Abenteuer genug. Weil es eine Stadt für Autos nicht für Menschen ist. Über den Verkehr und die Wichtigkeit des Autos werde ich wohl einen eigenen Text verfassen müssen. Ach, warum denn nicht gleich? 

Sum ist übrigens die Landeswährung und aktuell entsprechen 14.000 Sum einem Euro. Nun denn, mein erstes Taschkent-Gedicht mit dem Titel: 


Taschkentgültiges und Nichtiges


Sum, Sum, Sum
Nullen fliegen herum
1.000, 10.000, 100.000
Nullen fliegen
Sonst fährt alles Auto - Nein!
Alles staut, alles steht, nichts geht voran
Das kann nicht gesund sein, wenn's im Verkehr so nicht fließt
Das kann nicht Bestand haben, das kann nicht Verstand haben
Das kann nicht, soll nicht, darf nicht so weiter gehen
Gehen, haha!
Niemand geht hier, alles staut, allest stockt, nichts fließt
Nichts geht voran
Oh doch, der Kapitalismus hat längst seinen alles zersetzenden Turbo gezündet
Aber niemand geht hier zu Fuß
Gehen ist hier lebensgefährlich
Aber an sich so gesund
An sich - Ansichtssache, sagen sie
Die Autobauer, die Verbrennermotorlobbyisten und die I-build-my-dream-with-my-car-Traumkäufer*innen
I live in my dream, I live in my car, I sleep in my car because I can't move anyway
Anyway, haha! Alle Wege blockiert
Freilich muss man sich in seinem Auto wohlfühlen, wenn man so viel Zeit darin sitzt und steht

Da kann die Metro noch so billig sein (2.000 Sum)
Da kann die Metro noch so schön sein (sehr, sehr schön)
Da kann die Metro noch so regelmäßig fahren und einen pünktlich fast überall hinbringen
Wer Autofahren will, nimmt viel in Kauf, vom Kauf an
Sum, Sum, Sum
Nullen fliegen herum
1.000, 10.000, 100.000 Nullen fliegen
Eine Tankfüllung entspricht hunderten Metrotickets oder anders gesagt
Für den Preis eines U-Bahn-Tickets kriegt man 125 Mililiter Benzin
Nein, Yandex (das usbekische Uber) und Taxis sind keine Lösung
Die stauen auch rum
Sum, Sum, Sum alle stehen rum
Ich sag staunen statt stauen, herrichten statt neubauen, bewahren statt vernichten und statt vergessen: dichten
Aber die Nüsse, die Nüsse sind auf meiner Seite
Nüsse hageln auf Autodächer, jawoll Nüsse, haut rein
Macht kaputt, was die Stadt kaputt macht

Ja, das ist keine angesagte Autofiktion, das ist eher eine Autotirade
Irgendwas läuft hier verkehrt in der Verkehrsstrategie
Aber das ist nur meine Meinung, meine Ansicht
An sich gibt's ja viel Grün in der Stadt
Aber es ist eine Stadt für vier Räder nicht für zwei Beine
Es ist nicht meine Stadt, aber vorübergehend sehr einsichtsreich, Einsichtssachen die Menge
Einsichtssachen und Nullen, Nullen, Nullen
Nullen und Nüsse, Hammelhinternfett und Schaschlikschlaraffenlandschaft
Jeder Spaziergang ein Abenteuer und kein Abend teuer
Alles billig und recht überschaubar vom 17. Stock der Hotel-Uzbekistan-Panoramabar aus gesehen
Aus und alles gesehen?
Natürlich nicht: Ich sammle Eindrücke und Einblicke, mache Beobachtungen und Erfahrungen und halte fest, was mir wichtig ist
Nüsse
Nüsse und Küsse und falsche Schlüsse, nein, schon auch richtige und wichtige
Ich richte nicht, ich dichte und dachte, sachte Kritik ist als Auftakt-Blog-Beitrag dieser Zentralasien-Tour nicht verkehrt.
Hoppla, schon wieder verkehrt, jetzt hab ich für den Anfang aber genug Wörter aufgefahren und besser Wörter auffahren lassen als Autos, sag ich, aber das ist nur meine Ansicht
An sich kann ich diesen ersten Beitrag jetzt mit einem lieblichen Wortauffahrunfall Taschkentgültig beenden:
Taschkent ist eine Autooase an der Seidenstraße und ein Kurzbesuch ist nicht verkehrt