Montag, 25. Februar 2013

Schaschlik, Popel und Grummelmodus

Die Nacht vor TAG 4 ist kurz. Der „Afrosiyob“ will erreicht werden. Der georderte Taxler will glatte 10.000, kriegt 7.000, im Zug (Talgo) gibt es ein Frühstück, wir holen zwei Stunden Schlaf nach, sehen (auch nebelbedingt) nichts, kommen pünktlich in Samerkand an und dort wartet er schon, der nächste Dekan.
Samarkand macht einen größeren Eindruck. Jedenfalls ist der Bahnhof ziemlich außerhalb. Ein Zentrum gibt es in Samerkand nicht wirklich. Es gibt die Altstadt, den sowjetischen Teil und die Touristenattraktionen. Wären die nicht, wär's trist. Aber zugegeben, es sind viele. Wir wohnen in der Altstadt: B&B Hotel Antica. Eine klamme Kammer aber nett. Abends fällt der Strom aus. Es kann aber auf gespeicherte Solarenergie umgeschaltet werden. Irgendwann n der Nacht geht das Licht dann wieder an. Das kommt regelmäßig vor hier. 3.500 Kilometer sind es übrigens von Tashkent bis Istanbul. Von Tashkent bis Samerkand sind es zwei Stunden mit dem schnellen Talgo und dreieinhalb Stunden mit dem normalen Zug.
Das Frühstück im Hotel Antica ist toll. Kürbisblinis, Omeletten, Maulbeer- und Feigenmarmelade und diese Weizenkeimschmiere deren Namen ich mir nicht gemerkt habe. Wir ziehen sogar unsere Schuhe aus und schlüpfen in bereitstehende Puschen, was bei dem Zustand der Altstadtstraßen (Schlammpiste mit Buckeln, Löchern und Abwassergräben) auch Sinn macht. Die Vermieterin spricht perfekt deutsch, erzählt vom Elend aber auch, wie schön es im Sommer ist und dass Matthias Politicky da war und ein Buch geschrieben hat, das bald herauskommen wird. Samerkand, Samerkand soll es hießen – altherrenoriginell. Momentan ist natürlich Nebensaison. Aber man kann sich ganz gut vorstellen, wie hier Touristengruppen durchgepeitscht werden und Reiseleiter ist ein beliebter Studi-Job. Wir haben uns das anders vorgestellt, als es hieß, Studierende würden uns die Stadt zeigen. Murat ist ein Tartar und Vollblut-Guide. Er textet uns zu, lässt uns Eintritte zahlen und am Basar ist er ebensowenig auf unserer Seite, wie beim Taxipreis verhandeln. Das ist ungut. Ich schalte auf Grummelmodus, will nicht geneppt werden und drücke das mit jeder Faser aus. Meine Frau und Reisepartnerin geht ganz gut damit um. Schließlich essen wir Salat und Brot auf der Veranda und zahlten dafür mehr als für ein normales Mittagsmenü.
Samerkand liegt auf 750 Höhenmetern und wird an drei Seiten von Bergen gesäumt. Das macht was her. Drei Seiten sind auch am Registan Platz gesäumt und zwar von Medresen (das sind vereinfacht gesagt Schulen samt Wohnzellen). Toll verziert, verspielte Svastikaornamente und der Tiger, der auch vom 200 Sum Schein lacht. Daneben dann eine megaprotzige Moschee mit der größten Kuppel Mittelasiens im Mittelalter. In fünf Jahren gebaut, das war zu schnell, Husch-Pfusch-Zusammenrumpel folgte und wieder gleich daneben ein Basar. Die Nekropole haben wir nur von der Ferne gesehen aber ehrlich gesagt interessieren uns die Sowjetbauten eh mehr. Und davon gibt es in Tashkent mehr als in Samerkand.
Die Lesung ist dann wohl einer der skurrilsten Auftritte ever. Vor allem, weil anfangs nur alte Männer in der Runde sind und sich ein paar Studis erst später dazu gesellen. Alter Mann: „Erzählen Sie uns was über Österreichische Literatur!“ Ich: „Dafür bin ich nicht hier.“ Alter Mann: „Sie sind sicherlich talentiert. Singen Sie ein Lied!“
Meine Frau, Reisepartnerin und Mieze Medusa rappt, so geht die Zeit auch um und dann unterhalten wir uns mit einem Albino Usbeken bei Meinl Kaffee über Bichsel, Borchert und unerschwingliche Bücher. Der Albino Usbeke und Deutschlehrer ist nett. Wir fühlen uns ihm schlagartig so verbunden, dass wir ihn fast darauf hinweisen, dass seit Anbeginn unserer Unterhaltung ein Popelchen aus seiner Nase lugt, das sich an sich schon von der Naseninnenwand getrennt aber eben in den feinen Nasenhärchen verfangen hatte uns so bei all seinen Bewegungen mit wippt. Der wird beschenkt mit Sprechknoten. Danach ist es höchst Zeit für Fleisch. In Schaschlikform hatten wir uns dieses ja bisher noch nicht einverleibt.
Also Leber-, Hühner-, Rinder- und Mix-Spieß mit reichlich Salat und hinterher den ersten Vodka (und das am vierten Tag!). Dass Tags drauf derer noch viele folgen sollten, können wir zu dieser Stunde noch nicht wissen. Wir gehen früh schlafen, um früh frühstücken und dann nochmal Richtung Basar laufen zu können. Dass die Taxifahrer uns eine lautmalerische Performance abverlangen, um auf die Idee zu kommen, dass wir zum Bahnhof wollen, ist eigentlich sehr unterhaltsam. Wir bezahlen außerdem weniger als unter Murats Schirmherrschaft. Nein, der feiste Murat bleibt auch in der Erinnerung ein Grummelgrund. 


Sonntag, 24. Februar 2013

Russischer Hering und Bruce Willis

An TAG 3 steht dann ein Fußmarsch an. Fußmarsch und Eigenerkundung der Umgebung. Denkmäler, Paläste, Plätze alles da und am besten vom 17. Stock des Hotels Uzbekistan am Amir Timur Platz zu überblicken. Die Sowjetarchitektur gefällt uns, ist immer für ein Foto gut, die breiten Straßen weniger. Die Wege sind weit, wir aber gute Fußgänger. Wir besänftigen den Magen mit Pasta Bolognese und sind gespannt auf den Workshop. Wir erfahren, dass Facebook hier Anaglasniki heißt, dass die Studis kein Problem damit haben, vorzutragen und dass sie temperamentvoller sind, als man annehmen wollte. Kein kühler russischer Emotionsmantel sondern Gastfreundschaft, Herzlichkeit und emotionale Offenheit sind festzustellen. Der Belohnungs- und Aufwärmjasmintee in der wohl teuersten Etablissement weitum ist gut und leistbar, einige Getränke aber schon absurd teuer (Ice Tea 17.000, Erdinger 44.000, Espresso 15.000). Nachdem wir beim Italiener schon 12.000 für einen frischen Orangensaft, der dann ein frischer Apfelsaft war, bezahlt hatte, schockiert uns das zwar nicht all zu sehr, aber es macht uns vorsichtig. Es folgt ein Abstecher beim Georgier. Tolles Essen, nur leider keine zeit, weil Bruce Willis auf russisch auf uns wartet. Stirb langsam 5 (18.000 Sum) mit Kinobarbier (3.500). Ein Vergnügen und – weil in Russland spielend – ja auch richtig gut passend. Danach dann doch noch zwei Hotelbarbier, weil es grad schmeckt und geredet werden will.

Hier brennt Hanno am Unabhängigkeitsplatz
TAG 2 beginnt mit dem gleich schlechten Frühstück. Die Topfenblinis und Reisomeletten sind schon in Ordnung aber Obst, Gemüse und regionales Brot gibt es nicht. Vom Kaffee wollen wir an dieser Stelle nicht berichten, es sei nur erwähnt, dass der Beuteltee keine Alternative ist. Wir treten also nicht kaffeegestärkt für den ersten Auftritt an, werden von Camola und Chauffeur abgeholt und ins edle Gebäude des Fund Forums gebracht. An den Wänden Fotos der bisherigen Veranstaltungen. Auf vielen steht eine blonde Frau im Mittelpunkt (des Präsidenten Tochter und die Fund Forum Chefin). Wir lernen sie nicht kennen. Uns betreut einer, der in Wien studierte und fürs Konsulat in der Pötzleinsdorfer Straße arbeitete. Dann Interview vor laufender Kamera, dann doch noch Kaffee und darauf folgender Schnellschiss und dann füllt sich der Raum mit angekarrten Studis. Anfangs wird tatsächlich für einen Abgesandten des Kulturministeriums simultan übersetzt, das stört natürlich – wir sprechen ohne Mikros – das Übersetzunterfangen wird aber doch recht bald aufgegeben (so ziemlich genau nach den ersten Fruchtfleisch-Zeilen), der Dichtung sei Dank. Es wird eifrig mitgemacht, applaudiert und gefragt. Es wird mitgefilmt und fotografiert und ein deutschsprechender Zensor wird mit dem Material sicher noch viel Freude haben. Danke. 
Ab zur Weltsprachenuni
Mittagessen mit Tee, Kefir, Salat und Lagman um 10.000 Sum. Das Institutsgebäude wird nächstes Jahr abgerissen, das Haus krächzt wohl schon seit Jahren. Aber toller, lebender Holzboden, himmelblaue Schulbänke, farbenfreudige Fotos und weise Sprüche vom Präsidenten. 
Alle zufrieden. Feierabend mit richtigem Espresso beim Italiener, selbstgebrautem Bier im Bierhaus und leider viel zu viele Zwiebel zu den russischen Heringen. Wir wollen sparen, weil noch ins Kino, es gehen uns die Sum aus, weil noch 15 % aufgeschlagen werden und dann haben wir mit rebellischem Magen und sumlos die Taxiheimfahrt anzutreten. 
Die Zwiebelaura unterbindet bis auf weiteres jeglichen Nahkontakt. 
Der Schlaf ist schlecht und selbst am nächsten Morgen haben wir noch mit einigen hartnäckigen Restzwiebelschichten zu kämpfen.

Plov, Kurt und Hotelbarbier

TAG 1: Bis 11 lässt man uns ruhen. Dann steht der Dekan persönlich parat, um uns Tashkent zu zeigen. Kristina, die uns abgeholt und im Vorfeld alles organisiert hatte, ist mit von der Partie. Wir fahren an allen Monumenten der Neustadt und schmucken Plattenbauten vorbei, schrammen kurz auch der Altstadt entlang, steigen aus, um das Kaffal-Shashi-Mausoleum und die Medrese Barak Chan und den Ort, mit dem berühmten Lederkoran zu sehen und stürzen uns sodann ins Basar-Getümmel. Die Entdeckung sind schrill-bunte Salatberge und die Kurt-Abteilung (Kurt ist Trockenkäse). 
Brot wird in alten Kinderwägen am Straßenrand angeboten und ist heilig (immer zwei kaufen, nie verweigern oder irgendwo liegen lassen!), nur leider am Hotelfrühstücksbuffet nicht in dieser Form zu kriegen. Vor dem Basar ist eine Handwerkerstraße. Spezialisiert ist man hier auf Kinderbetten mit integriertem Topf und einem Leitungssystem, das Kleinkinder windellos schlafen lässt. Dann geht’s heim zum Dekan: Plov essen. Der Dekan der Weltsprachenuniversität Tashket wohnt mit Frau, Sohn und Schwägerin in einer Fünfzimmerwohnung in einem Plattenbau direkt an einer viel befahrenen Straße. Töchter hat er auch, alle haben studiert und arbeiten. Die Frau kocht. Wir essen. Es schmeckt.

Wir schneidersitzen auf diesem Riesenbettgestell mit Tisch in der Mitte. Uns wird reichlich Tee gereicht. Süßigkeiten und Trauben sind schon da und wollen verkostet werden, obschon das Essen erst beginnen wird. Salate in allen Farben. Die rote Rübe wird hier hoch gehalten und mit Walnüssen, Bohnen, etc. veredelt. Krautsalate mit massig Kräutern. Karotten mit Kreuzkümmel, dazwischen Radieschen und Kohlrabi in besonders knackiger Form und grellem grün. Mariniert wird mit Kefirsoße und Eingelegtes dominiert. Dazu natürlich Brot – äußerst schmackhaft. Und dann Plovts. Der sympathische Dekan erzählt von seiner Zeit in der DDR, von seinen Kindern, dass er eines von zwölfen war, etc. Das ist alles sehr ungezwungen, relaxed und interessant. Dann wechselt er auch noch bei einem Freund Dollar und Euro für uns und kommt mit einem ganzen Sack voll Geld zurück. Wir sind eingeschüchtert und lernen den SUM kennen. 
Die Zugtickets hätten wir ohne seine Hilfe wohl nur unter Aufbringung von viel Zeit und Gestikgeschick erstanden. Die Bahnhöfe sind abgesichert wie Flughäfen. Wir sind in einem -istan, einem Endsilben -istan-Land. Bedrohung ist nicht virulent aber jederzeit möglich. Dass wir am ersten Abend ein Lokal in Hotelnähe finden, das an sich einen noblen Eindruck macht – Luster, Teppiche, schweres Gedeck – in dem das Bier aber nur sensationelle 2000 Sum kostet, ist ein genehmes Wunder. Im Hotelfernsehen dann ZDF Sonntagnachmittagsport (weil vier Stunden Zeitverschiebung). Die 7000 fürs Hotelbarbier zahlen wir dann gar nicht gern, zumal es in der „Hemingway Bar“ endlos trostlos ist.

TASHKENT

Denkmäler im Wandel: 1940 Stalin, 1967 Marx, seit 1993 Amir Timur
Autos weiß, Kleider schwarz, Kuppeln blau, Zäune türkis und Zähne gerne goldig. Soviel zu oberflächlichen Auffälligkeiten.
Schlaglöcher und Straßengräben. Löslichkaffee, Beuteltee und weiße Sprüche des Präsidenten. Soviel zu evidenten Ärgerlichkeiten.
Sowjetarchitektur prägt die Neustadt. Breite Straßen, riesige Plätze und massive Kastenbauten. Da und dort ein neues, orientalisch anmutendes Hochhaus mit Glas und runden Formen. Springbrunnen an allen möglichen Orten und wo kein Springbrunnen, da ein Semigur. Das ist ein geschichtsträchtiger Vogel.
Urwüchsige Bäume und davon viele. Im Frühling grünt's hier wohl prächtig. Grün auch die Uniformen der Wächter. Nicht hell, nicht dunkel, so ein landesflaggenpetrolgrün – sehr kleidsam. Die Kopfbedeckungen (wie nah „Bedeckung“ am Deckel ist, wird einem hier klar) sind ohnehin unschlagbar.

Die offizielle Arbeitslosigkeit ist gering, die tatsächliche nicht eruierbar. Die Großfamilie bietet Rückhalt. Der offizielle SUM-Kurs ist gering, die zahlreichen offenbar hauptberuflichen Wechsler bieten 30 % mehr. Der größte Schein ist ein 1000er. Ein Dollar inoffiziell 2600 Sum wert. Will man am Basar einkaufen, geht man mit einem Nylonsack voll Geld dort hin. Will man mehr einkaufen, braucht es schon einen Rucksack voll. Man wedelt mit 100.000er Packerln, die mit Gummibändern gebündelt sind.

Schal falsch. Zimmer im 9. Stock. Aufzug? Ja.
Die Einreise verläuft recht unproblematisch und flott. Das Gepäck wird noch mal gescannt und die ausgefüllten zettel gestempelt. Dann wird man ins Land entlassen. Eine Ankunftswartehalle gibt es nicht. Aber eine Taxifahrermeute, die sich auf einen freut. Für 3000 SUM sollte man in Tashket an sich überall hin kommen. Aber je nach Dringlichkeit, Verfügbarkeit und Wetter ändert sich der Preis natürlich. Auch gibt es offizielle Taxis mit Taxischild wie man das kennt. Aber noch viel mehr inoffizielle Taxis. Wer ein Auto hat und gerne Auto fährt, ist Taxler. Die Kofferräume sind etwas kleiner, weil sich darin der Gastank breit macht. Gurte hinten sucht man vergeblich, ein Taxameter auch, egal, es muss ohnehin verhandelt werden (vorher!). Die paar Touristen-Hotels kennen alle und man sieht sie auch von weitem.
Dass für Late-night-check-in im Hotel Shodlik nur die Hälfte verrechnet wird, ist toll. Dass es so ausschaut, als wäre für uns nicht reserviert, ist zur Ankunftsstunde (3 Uhr 30) weniger lustig. Aber wir werden schließlich aufgenommen und dürfen gegen 4 Uhr und 13 Stunden Reise in die Betten sinken. Daheim ist's grad Mitternacht.

Scheingefühle. Ein Währungsgedicht

Die Währung in Usbekistan heißt SUM
Wenn ich dich in meine Arme schließe
Wenn ich dich berühr, dich zart begreife
Spür ich nicht den Funken einer Krise
Sondern nur die Aura deiner Reife
O Sum, o Sum, o Sum, Sum, Sum
Du bist keine Biene, hast keine Flügel
Du bist eine Währung und hast Scheine
O Sum, du summst nicht, sichst nicht, machst keinen Honig
Du zahlst, kaufst, zählst für mich
O Sum, du machst mich zum Millionär
O Sum, du beulst mir die Taschen aus
O Sum, du lehrst mich das Zählen von 1,2,3,4,5,6,7,8,9 bis 100
O Sum, gäb's dich nicht in 100er Päckchen, hätt' ich nie Gummibänder zur Hand, um damit im Unterricht Papier-U-Häckchen zu verschießen
O Sum, gerne fächel ich mir mit dir Wind zu
O Sum, o Sum, o Sum, Sum, Sum
Ich komm sum Schluss – Warum?
Cogito ergo sum!

Samstag, 2. Februar 2013

Erleben!

Lisa Kränzler ist für den Rauriser Literaturpreis 2013 nominiert. Da werden Debüts ausgezeichnet. "Export A" ist Lisa Kränzlers Debüt und 2012 im Verbrecher Verlag erschienen. 2012 ist Lisa Kränzler auch beim Bachmannpreis angenehm aufgefallen und hat für einen Ausschnitt ihres Romanes "Nachhinein", der demnächst (ebenfalls im Verbrecher Verlag) erscheinen wird, den 3sat Preis erhalten.
Export A steht für eine Zigarettenmarke kann aber schon auch als Export der A-Klasse gelesen werden. Lisa Kerz ist nämlich Austauschschülerin. Deutsche in Kanada. Eine aufgeweckte 16jährige: "Ich hatte stets die höchste Ansprüche an mich, verabscheute nichts mehr als Halbwahrheiten." (27)

Die ältere Schwester hat es nach Kanada verschlagen. Die versucht dort mit einem religiös konservativen Mann ihr Seelenheil und ist die erste Anlaufstelle für Lisa. Das familiäre Klima ist ebenso eisig wie das äußerliche, aber Lisa brennt. Lisa will Erfahrungen sammeln, Leben ausprobieren ohne Kompromisse: "Meine eigene Lebendigkeit drohte, mich in den Wahnsinn zu treiben." (60)
Ihre erste Bleibe ist ein VW-Bus, dann ein braunes Zimmer im Nirgendwo und schließlich ein WG-Zimmer im mintgrünen Reihenhaus Joshs (der Höhepunkt, nach der Räumung dann noch ein Umzug in die Maple Street bei gütigen Pflegeeltern). Die Bezugspersonen im Rausch Lisas wechseln rasant. Große Schwester - Gott (in der Vertretung von Pasor Leroy) - Matt - Sam - Josh ("Wir sind kein Paar. Wir sind Forscher." 107) - Derrick.
"The german sailor" ertrinkt sich Respekt, lässt nichts anbrennen, erfriert zu Sylvester fast und steckt auch sonst jede Menge scheinbar ungerührt weg. Nur Kyle und die Pille danach scheint sie nachhaltig zu beschäftigen. Es wird unendlich viel gesoffen, gekifft und gefickt in Export A. Die Heldin richtet sich an Songtexten auf, wird von den Predigen des Pastors verwirrt, lässt sich von niemandem was sagen, weiß aber natürlich eigentlich nicht wirklich was sie will. Sie will ERLEBEN, das reicht auch als Lebensmotto für eine 16jährige in der Fremde. Warum sie zurückkehrt in die deutsche Geborgenheit, wie sie sich mit Schuld beladet, die ihr zu schaffen macht, sei hier nicht verraten.
Was aber an dieser Stelle laut gesagt gehört ist: Export A ist das überzeugendste Buch mit einer jugendlichen Heldin seit langem. Wie hier die Themen Erwachsenwerden, Einsamkeit, Freiheitsdrang und Schuld verhandelt werden, ist beispiellos. Grund dafür ist der Drang der Heldin zur Kompromisslosigkeit und zur Lust auf Neues sowohl den Inhalt, als auch die formale Umsetzung betreffend. Kränzler montiert munter drauf los, hat keine Scheu vor Experimenten, findet eindringliche Bilder, geht knüppelhart zur Sache, dann wieder samtweich poetisch. Das ergibt in Summe ein Romandebüt das eindringlich, ja, mitunter schmerzhaft ist aber einen so richtig gut trifft. Volltreffer und begeistertes Taumeln!

Freitag, 18. Januar 2013

Innenlebenfreiheit rules!

Köln, Domnähe, farbliche Covernähe zu Holtrop
Weil ich ja „Johann Holtrop“ von Rainald Goetz nicht besprochen habe, sei hier wenigstens aufgezeigt, was er selbst über den Roman, die Arbeit daran und die Rezeption zu sagen hatte.
Meine Idee war immer, es wird nur das gesagt, was der Leser noch nicht weiß“, sagt Rainald Goetz also im Zeit Interview. „Ich beschreibe eben nicht die gemütliche Art des Lesens, sondern ich beschreibe die reale Art des Erlebens.“
Er habe versucht, die implizite, als Gedanken nicht explizit ausgewiesene, Gedankenrede immer von außen zu schreiben. Er wollte einen Roman schreiben, der nicht mit irgendwelchen äußerlichen theaterhaften Gesten experimentell zu sein versuche, sondern innerlich. „ (…) nach außen hin ist es super simpel; aber im Inneren, heimlich: formal experimentell.

Um was es geht? „Es geht immer um Weltaufschließung, um Realitätserfassung, um Komplexitäts-, um Widerspruchsreichtum.“ Und dazu ist Wut gut, findet Goetz.
Goetz hasst es, wenn vom Erzähler verlangt wird, seine Figuren nicht zu bewerten. Mit großer Freude macht er da etwas Verbotenes. „Ich wollte das anders machen, weil mir diese Regeln nicht einleuchten, weil ich selber ein direkter Mensch bin. Weil ich selber es nicht gern habe, wenn untergründig mir was mitgeteilt wird. Das mag ich nicht. Auf der ersten Seite ist das Prinzip des Romans offengelegt.“

Goetz hat durch die Rezeption gelernt, dass der realistische Roman die Regeln des realistischen Romans nicht so offensiv verletzten darf, wie er das absichtlich machte. Der realistische Roman müsste – so Goetz – seine innere Experimentalität besser verstecken. Wobei die Hauptidee für die Figuren im Roman ja eben sei, dass sie innenlebenfrei dargestellt werden. Und wie geht er mit der Kritik um? „Wenn man zu sehr auf Kritik reagiert, verliert man den richtigen Fehler, der ein dem eignen Naturell entsprechender Fehler ist.“

Donnerstag, 10. Januar 2013

Top 20 Berufe 2013

Gestern habe ich gelesen, dass es neuerdings eine Fußgängerbeauftrage gibt in Wien. Das ist schön und ein toller Beruf. Hier meine Top 20 der Berufe 2013 in aufsteigender Reihenfolge:
Wehrpflichtvolksbefragungsberater
Zölibatzerfickerpater
Katastrophenzeitsoldatenschützer
Lawinentrittbrettfahrtbenützer
Zeitungsinseratekanzler
Societyheinzelmännchenumschwanzler
Gutachtenverbesserungskonsul
Spindoctordemontierungsmodul
Wohnbaufondverzocker
Bügelfaltenhosenrocker
Politanfütterungsverhüter
Großechancejurytatatatatüter
Geheimdienstschlussverkünder
Lobbyhobbyjagdclubgründer
Baumgartenabfallproduktversüßer
Geschlechtsverkehrsparklückenbüßer
Parlamentsstronachzügler
Eurofightergegengeschäftsbeflügler
Parkpickerlzonenerweiterer
Poetryslampublikumerheiterer

Donnerstag, 3. Januar 2013

Trashclockworker


Diese Tage rund um Neujahr sind ja auch so die Tage, um Altlasten abzuarbeiten. Zum Beispiel grab ich mich grad durch die Berge auf meinem Schreibtisch und finde das eine oder ander Buch. Zum Beispiel: Uhrmacher von Andy Strauß. Schön ist, dass man momentan ja kaum was zu tun hat, man also sich gleich in Gefundenes vertiefe und loslesen kann. Alle, die irgendetwas mit Poetry Slam zu tun haben, werden Andy Strauß kennen, den anderen versuche ich erst gar nicht, ihn zu beschreiben. Andy Strauß ist ein Phänomen, das muss genügen und er stlammt nicht nur, sondern macht jede Menge Bücher. Zuletzt eben den Roman "Uhrmacher" (Unsichtbar Verlag).
Hat er gut gemacht diese Genre-Trash-Persiflage. Ein Erzähler, der nicht nur kommentiert, sondern auch eine Rolle spielt. Ein Held, der anders tickt. Eine abartig Dicke, die für allerhand Schweinkram herhalten muss. Ein durchgeknallter, reicher Esel, ein paar Running Gags, ein paar ins Leere laufende Handlungsstranblindgänger, ein paar fabelhaft phantasierte Geschichten rund um populärwissenschaftliche Skurrilitäten. Ein bissi Horror, Splatter, Schauermärchen. Ein bissi Sex, Suspense, Bespitzelei und immer den Pfad mit Kaninchenschlupfloch gewählt. Schier manische Beschreibungslust und pervertierte Detailversessenheit mit kalkulierten Brüchen. Unterhaltsam, abgedreht, selbstbewusst anders, mutig trashig.
Ein Genrebastard mit unvorhersehbaren Wendungen, Lust am Spiel mit Lesegewohnheiten sowie Leseerwartungen und guten Schlüssen.

Dienstag, 1. Januar 2013