Aber was soll ich sagen. Ich hab mich eingelebt. Habe leben hier neu gelernt, um es mit Ingeborg Bachmann zu sagen. Denn das hab ich schon geschafft, ich war heute in der Casa di Goethe in der Via del Corso 16. Da ist nicht nur die Goethe-Dauerausstellung sondern aktuell eben auch die Sonderausstellung: "Ich existiere nur, wenn ich schreibe. Ingeborg Bachmann" Und wenn da jetzt wer denkt: Wer geht schon am Tag 2 der Papstwahl in eine Bachmannausstellung? Dann lasst euch sagen, mehr als man meinen möchte. Vor allem mehr als der Ausstellung gut tun. Gut, sie waren wohl nicht freiwillig dort, die Jugendlichen aus Deutschland, die von der Lehrerin ins Goethe-Haus geschleift wurden und dort dann eine Führung über sich ergehen lassen mussten, was immerhin ein Schüler, am Ende fast mit Applaus bedacht hätte, wenn er etwas Unterstützung seiner Mitschüler*innen gekriegt hätte, hat er aber nicht. Die Führerin moderierte ab und sprach: "Und damit möchte ich schließen. Hier findet aktuell auch noch eine Ausstellung einer Österreichischen Autorin statt, die in Rom gelebt hat und leider schon 47jährig tabletten- und alkoholsüchtig in Rom verstorben ist." Ob sie das mit den Tabletten und dem Alkohol sagte, um sie für die Schüler*innen interessant zu machen, ich weiß es nicht. Schöner wäre gewesen: Die sich mit Tabletten und Alkohol verbrannt hat. Das wäre immerhin mehrdeutig gewesen. Ein Satz zur Bedeutung von Bachmann wäre schon auch schön gewesen. Ich weiß, das war jetzt viel gewesen. Aber nach Goethe, was soll man da schon über eine österreichische Autorin des 20. Jahrhunderts sagen? Eben.
Ich schaute mir also erst mal an, welche Stationen Goethe auf seiner Italienreise machte. Auch Innsbruck ist brav verzeichnete, am Vortag war er da noch im Mittersill. Das Gebiet von Neapel bis zu den Zehen vom Stiefel hat er ausgespart, weil wohl mit dem Schiff nach Sizilien, wo er wiederum ordentlich rum kam. Auch das ikonische Tischbein-Bild in Liegepose schau ich mir genau an (freilich nur die Kopie) und muss feststellen: Proportional haut das überhaupt nicht hin. Da müsste Goethes rechtes Bein schon erheblich kürzer als sein linkes gewesen sein. Merkt man vor allem an all den Nachstellungen, die winkelten alle ein Bein ab. Aber gut, ich will nicht spitzfindig sein. Oh, doch, eigentlich schon. Egal. War ja nicht für Goethe da, so wie die Schüler*innengruppe, wobei die wohl auch nur wegen ihrer Lehrerin dort waren, aber immerhin dann auch noch blieben. Mit mir blieben, um in den Bachmann-Räumen zu verweilen. Ob sie das Goethe-Haus nicht vor Mittag verlassen durften, oder freiwillig hier blieben, wage ich nicht zu mutmaßen. Jedenfalls breiteten sie sich gehörig aus. Vor allem im Filmraum. Da war es schön dunkel und es gab Sitzplätze. Da ließ es sich bestens das Handy auspacken und all die empfohlenen Videos anschauen, die in den vergangenen Minuten während der Goethe-Führung versäumt wurden.
Auf der Leinwand lief Bachmann in den 1960er Jahren durch Rom, in den Reihen dröhnten aus mehreren Handys gleichzeitig Musik-, Gebets- und was-weiß-ich-für-Anleitungsvideos. Ich freu mich für die Jugendlichen, dass sie eine gute Zeit in der Ausstellung haben. "Die Jugendjahre sind, ohne dass ein Schriftsteller es anfangs weiß, sein wirkliches Kapital.", sagte die Bachmann in einem Interview 1971. Aber nicht nur der Filmraum zieht die Jugendlichen an, auch neben den Schaukästen der Kindheitsfotos breiten sie sich am Boden aus: sitzen, liegen neben und aufeinander. "Weißt du eigentlich noch, dass wir doch, trotz allem, sehr glücklich waren, selbst in den schlimmsten Stunden, wenn wir unsere schlimmsten Feinde waren?", schrieb die Bachmann am 27. Juni 1951 in einem Brief an Paul Celan. "Ich hau dir in die Fresse", sagt eine sehr schwarz gekleidete Jugendliche zu ihrer Freundin, die das wahrlich treffen würde, denn da ist viel Metall in ihrem Gesicht. "Halt's Maul!", entgegnet die Bedrohte und das scheint angemessen, denn dann liegen sie sich schon wieder in den Armen. "Wenn die Sprache eines Schriftstellers nicht standhält, hält auch, was er sagt, nicht stand.", sagte Ingeborg Bachmann in einem Interview 1955. Ich bin mir plötzlich gar nicht mehr so sicher, ob es sich bei den die Räume belagernden Jugendlichen um eine zwangsverpflichtete Schüler*innengruppe handelt oder ob es vielleicht doch eine Exkursion angehender Schriftsteller*innen aus Hildesheim oder Leipzig ist. Sagte nicht grad die, die sich unter einen Schaukasten mit Manusktipt-Seiten von Bachmanns berühmter Dankesrede anlässlich des Hörspielpreises der Kriegsblinden wälzte: "Mir tut der ganze Körper weh, so arg ist mir's, nicht in Deutschland zu sein." Oder hab ich mich verhört, was leicht sein kann, denn die Handyvideos sind ganz schön laut.Jetzt wälzt sie sich wieder in den Raum und ruft: "Ich bin niemands Frau. Ich bin noch nicht einmal. Ich will bestimmen, wer ich bin." "Halt's Maul!", quittiert eine Freundin und ich bin entzückt. Vielleicht ist es auch eine Theater-, oder Schauspielgruppe, die sich hier ausbreitet. Vielleicht bin es auch einfach ich, der sich die Situation hier schönredet. Vielleicht hat Ingeborg Bachmann einen rettenden Rat, da schneidet sich auch schon ein Satz durch die vorherrschende Geräuschkulisse: "Wo nichts mehr zu verbessern, nichts mehr neu zu sehen, zu denken, nichts mehr zu korrigieren ist, nichts mehr zu erfinden und zu entwerfen, ist die Welt tot."
Ich beginne augenblicklich zu applaudieren. Der, der vorher schon applaudieren wollte, klatscht mit. Die die vorher schon "Halt's Maul!" sagte, sagt "Halt's Maul!", von irgendwo her schallt mir "krass kranker Scheiß" entgegen. "Ich brech dein Gesicht" wird wohl in ein Gesicht gesagt und im Raum schwebt auch ein "Nein, Alter, ich schwör. Tischbein, Alter, nicht Hohlbein. Ich schwör um dein Leben." Es wird sich also über das Gesehene unterhalten und es geht auch ganz schön existenziell zu: "Wenn ich nicht bald Pizza und Cola dann sterb ich auf der Stelle, kein Scheiß." Mir wird warm ums Herz. Ich verlasse mit einem Katalog unter dem Arm die Austellung, die Jugend bleibt noch und ich kann es nur mit Bachmann sagen: "Im Grunde ist jeder allein mit seinen unübersetzbaren Gedanken und Gefühlen."