Dienstag, 24. Januar 2012

Stimmenfang


„Ida oder das Delirium“ von Hélène Bessette ist ein Roman oder ein Langgedicht. Jedenfalls ist es keinesfalls konventionelle Literatur. Die Lesegewohnheiten werden gebrochen, der Blocksatz auch. Das Buch ist verspielt gesetzt und tischt von Anfang an die Tatsache von Idas Tod auf. Dann aber geht es los. Dann greift die Autorin nach den Stimmen in der Luft.
Denn man kannte sie ja eigentlich gar nicht. Dieses Dienstmädchen, das sich als „Vogel der Nacht“ bezeichnete aber keine Flügel nur übergroße Füße hatte. Diese Magd, die nur einmal im Leben wirklich abhob und zwar, als sie von einem LKW erfasst und acht oder neun Meter weit in die Luft gewirbelt wurde. Tot. Selbstmord?
Man weiß es nicht, man weiß so wenig, hat aber viel zu fragen und vermuten über die Sechsundsechzigjährige Magd der Familie Besson. Auf einmal reden alle über sie, glauben alle, etwas zu wissen.
Da blühen Floskeln, Vorurteile und Sprachmuster. Da greifen alle in die Plapperkiste, ziehen Phrasen raus und stülpen sie der Toten posthum über. Wer spricht, ist nicht wichtig und nicht zuordenbar.
Es spricht die Gesellschaft. Der Ton ist bitter, die Handlung evident und eine Erzählhaltung gibt es nicht. Das ist nicht linear, das ist nicht montiert, das ist polyphones Gezwitscher und Hélène Bessette vermag es, all das herumschwirrende Gerede zu fassen. Hélène Bessette geht auf Stimmenfang und bringt die Kakophonie in Form, rhythmisiert das Gerede, komponiert daraus lyrische Prosa.
„Ida oder das Delirium“ war Hélène Bessette letzter Roman, der 1973 in Frankreich erschienen und nun erstmals auf Deutsch in der Übersetzung von Christian Ruzicska zu lesen ist. Hélène Bessette gilt als Vorreiterin des Nouveau Roman, dennoch blieb ihr der Erfolg zu Lebzeiten versagt, sie verstarb vereinsamt und verarmt 82jährig in Le Mans.

Montag, 9. Januar 2012

Matrosenchose


Judith Schalansky hat ein Gespür für schöne Worte, ein Faible für Fortbewegungsmittel und eine eindeutige Lieblingszeit.
"Blau steht dir nicht" ist ein sehr eigenwilliges Buch in 6 Kapiteln, die nur insofern zusammen hängen, als entweder immer über Meer, Inseln und Matrosen oder Fremde, Ferne und Eindrücke erzählt wird. Dazwischen gibt es immer wieder Fotos, die sich aufs Erzählte beziehen. Mal erzählt eine erwachsene Ich-Erzählerin von Reisen, mal wird von der heranwachsenden Jenny erzählt.
Die Heimatinsel von Jenny ist Usedom, das war einst im Osten, ist noch immer an der Ostsee und die Nachbarinsel von Rügen. Jenny lässt sich dort von den Großeltern die Welt respektive das Meer erklären. Das ist interessant und schön.
Dem Spülsaum begegnet man als Älpler ja kaum. Doppeldecker und Zeppeline als Kind der 1970er Jahre auch nicht. Aber Opas wissen davon ein Liedchen zu singen, das gut klingt in neugierigen Kinderohren.
Die Reiseberichte der Ich-Erzählerin sind alles andere als kindlich. Es sind poetische Sinnesräusche, dichte Schlaglichter auf einen Ausschnitt Welt, denen das Suchen, die Lebenssehnsucht anzumerken ist.
Mögen viele historische Fakten nach der Lektüre wie Schaumkronen wieder zerfallen, was bleibt, sind zahlreiche Seesterne, Bernsteinwetter und eine eindrückliche Schilderung der Berufsbild-Bedeutung: Matrose (Uniform inklusive)

Dienstag, 3. Januar 2012

Die Burzeltage der Mohrrübe


Kirsten Fuchs ist die Größte (Lesebühnenautorin).
"Eine Frau spürt so was nicht" heißt die Sammlung von Texten, die das zahlreiche Publikum der legendären Lesebühne "Chaussee der Enthusiasten" schon zu Gehör bekommen haben dürfte und die die LeserInnen des Magazins "Das Magazin" zum Teil schon gelesen haben sollten. Jedenfalls ist die diese Textzusammenstellung das reinste Vergnügen und dass das Buch, wie alle Voland & Quist Bücher, mit CD ausgeliefert wurde, ist natürlich das Tüpfelchen auf dem i. Jetzt sollte eigentlich ein Eigenschaftswort mit i folgen, um das gebührend zu unterstreichen, aber da ist die Auswahl insgesamt ja leider beschränkt. Irre? Nein. Irre gut, das ja.
Kirsten Fuchs macht aus jeder Alltagssituation einen originellen, lesbaren, untehaltsamen Text, der oft auch formal überrascht. Die großen Themen: Liebe, Männer und Kinder werden erschöpfend, erheiternd und erleuchtend abgehandelt. Erhellend auch die psychohygienische Funktion von Burzeltagen oder auch die Mohrrübe als patentes Tool die Welt zu erklären.
Mehr Beispiele sollen an dieser Stelle gar nicht gegeben werden, ein Leseratschlag allerdings schon. Bitte das Buch nicht ohne Absetzen lesen. Da setzt der Übersättigungsgrad zu früh ein und es kann nicht alles gebührend gewürdigt werden.
"Eine Frau spürt so was nicht" gerne am Nachtkästchen, unter dem Kissen, am Spülkasten oder wo auch immer es leicht griffbereit ist, ablegen und immer wieder aufschlagen, zuschlagen und nachschlagen (alte Lexikon-Lesart). Und obwohl die große Geschenksverbreitungszeit grad vorbei ist, dieses Buch gerne lieben Menschen schenken.

Mittwoch, 21. Dezember 2011

Endzeitstimmung


Regen im Jänner. Regen im Jänner in einem Dorf in den Bergen. Regen, Regen, Regen und die "Hänge braun wie Kuhscheiße" (S. 50).
Wir befinden uns wieder in einem Dorf in den Schweizer Bergen. Großraum Graubünden. Wir befinden uns wieder in der Welt von Arno Camenisch, der mit "Ustrinkata" seine Bündner Trilogie beendet. Auf das zweisprachige "Sez Ner" folgte "Hinter dem Bahnhof" und nun ist Schluss, es muss ausgetrunken werden, die Stammkneipe - "Helvezia" - sperrt zu, nocheinmal alle Rohre fluten, trinken und erzählen was geht.

Wer trinkt, geht nicht unter. Wer erzählt, geht nicht heim. Wer am Stammtisch sitzt, den kennt man und was man nicht kennt, kann nichts Gutes sein.
Viel ist schon hereingebrochen über das Dorf: Unwetter, Steinschlag, Grenzverletzungen, Städter, Sodomisten; Mit allem ist man irgendwie fertig geworden, aber dass der Frisör Alex ausgerechnet heute, am letzten Tag, kein Bier trinken will, ist ein starkes Stück. Dabei geben doch alle anderen ihr bestes.
Silvia raucht eine Select nach der anderen und bechert mit Schnaps versetzten Caffefertic als gäb's kein Morgen, Luis fröhnt dem Quintin, Otto -der mit dem Bart wie eine Schaufel - und Gion Baretta stellen einen Kübel nach dem anderen runter, Flachmannschüsse veredeln auch hier den Stoff und die Luft wird von Brissagos und den Mary Longs geschwängert, letztere kettenraucht die Tante, die auch serviert. Schwer zu glauben, aber das ist ein Endzeitszenario.
Der Himmel scheint zu brechen und auch die Dämme der Trinkenden in der Helvezia.
Die Stimmung ist heiter bis wolkig, mehr geht nicht. Da blitzt zwar jede Menge Sonniges und "Farructs" aus vergangenen Tagen auf, aber dass es keine Zukunft für die Helvezia gibt, ist besiegelt.
"Ustrinkata" ist ein rotes Tuch für Lesende, die sich nicht auf Camenischs originellen Sprachenmix einlassen wollen. "Ustrinkatat" ist ein rotes Buch, das Lesenden einen schönen Nachmittag beschert, egal, ob es draußen regnet, schneit oder stürmt und egal auch, ob es in einem trocken ist oder katerbedingt brennt. "Ustrinkata" ist ein leicht verdaulicher Happen Camenisch. "Ustrinkata" ist ein Reperaturseidel für sehnsüchtig, nostalgische Seelen. "Ustrinkata" kann man, so betrachtet, getrost nicht Literaturverachtenden empfehlen.

Dienstag, 29. November 2011

Das große Namenslos gezogen


Über den Namen Wimmer bin ich schon immer gern gestolpert. Wimmer gibt es viele und hat man nicht besonders witzige Eltern, so wird man nicht mit der einen, wirklich schlimmen Wimmer-Namens-Kombination für immer gebrandmarkt. Rainer Wimmer. Dass es einen Rainer Wimmer geben muss, war mir klar. Rainer Wimmer klingt kläglich und weich und was macht dieser Rainer Wimmer? Er ist nicht Bestatter sondern Gewerkschafter (Berufsnörgler im positiven Sinn, wenn man so will). Welcher Gewerkschaft? Der Metaller Gewerkschaft. Besser hätte er es mit seinem Namen kaum treffen können. Man stelle sich vor er hieße Rainer Knüppel oder Ernst Prügel. Nein, Rainer Wimmer wird sein Namenslos in Verhandlungen sicher geschickt einzusetzen wissen. Möge die Macht des sprechenden Namens gering sein, dem Rainer Wimmer sei Hammerdurchschlagskraft gegönnt.

Donnerstag, 17. November 2011

Linkes Rechten

UNGLÜCKLICHE HEIMATLIEBE

Als es dich
nicht mehr gab,
hatte ich
Sehnsucht nach dir.

Nun es dich
wieder gibt,
habe ich sie
erst recht.

Als es dich
nicht gab,
verging ich
vor Weh nach dir.

Nun es dich
wieder gibt,
vergehtst du dich
an meinem Weh.

Das ist ein Gedicht von Arthur West aus dem 1988 in der Herbstpresse erschienenen Band "LINKES RECHTEN. Gedichte an und für Österreich". Arthur West wirde heute im Rahmen von Slammer.Dichter.Weiter. Thema sein und von Mieze Medusa rezitiert und weiter geschrieben werden.
Arthur West wurde 1922 als Arthur Rosenthal in Wien geboren, 1938 vom Schulunterricht ausgeschlossen und musste 1939 nach England emigrieren. Dort arbeitete er ein Jahr lang in einer Schuhfabrik, ehe er auch in England als "feindlicher Ausländer" nicht mehr erwünscht war und nach Australien deportiert wurde. Ein Jahr später wird er rehabilitiert und kehrt nach England zurück, um dort u. a. als Metalldreher und Zuschneider in einer Gürtelfabrik zu arbeiten.
1941 engagiert er sich auch in der Jugendorganisation österreichischer Emigranten in England, 1942 wird er Mitglied des Kommunistischen Jugendverbandes.
Er lernt Exilautoren kennen, erste Texte erscheinen, 1943 meldet er sich freiwillig in der Britischen Armee gegen den Nazi-Faschismus zu kämpfen. 1946 gewinnt er den ersten Literaturpreis und kehrt nach Wien zurück.
Arthur West arbeitete als Lektor, Fremdsprachen-Korrektor, Kulturredakteur (1969-1982 Volksstimme) und Autor. Das erste Buch "Die Große Selbstverständlichkeit. Lyrische Suite" erschien 1955, in den 1980er Jahren folgten weitere. 2002 unternahm die Edition Schwarzdruck den "Versch eine Werkausgabe" in drei Bänden.

Dienstag, 15. November 2011

Gezeichnete Geschichten


Neulich hab ich mal was für mich ganz Neues gemacht. Ich habe eine Comic-Lesung im phil moderiert. Man könnte auch sagen eine Doppel-Graphic-Novel-Buchpräsentation. Das mit den Bezeichnungen ist auf diesem Gebiet schon mal nicht ganz einfach. Jedenfalls ging es um zwei Comic-Autorinnen-Debüts aus dem Berliner Reprodukt-Verlag. Um "Alien" von Aisha Franz und "rpm" von Martina Lenzin.
Die Geschichte von Aisha Franz dreht sich um drei Frauen. Um die mehr oder weniger alleinerziehende Mutter, die ältere und die jüngere Tochter. Die jüngere wird schlicht "Mädchen" genannt und ist grad in der Pubertät. Die ältere hat die Schule abgeschlossen und macht grad erste sexuelle Erfahrungen und die Mutter scheint bereits mit ihrem Leben abgeschlossen zu haben und bemerkt, dass sie sich in einem Hamsterrad befindet, aus dem sie wohl nicht mehr raus kommt. Das alles spielt in einer bleistiftgrauen Reihenhaussiedlung in einer beliebigen Kleinstadt.
Das klingt trister als es ist, es geht schon nahe, berührt, macht aber oft auch schmunzeln, weil man sich oft ertappt fühlt. Franz trifft Gefühle und Erinnerungen die man kennt und setzt diese schlicht und einfach aber stimmig und überzeugend um. Gerne zeichnet sie Wangen, Wiesen und Rauchwolken, omnipräsent sind auch Zäune. Ja, es ist schwer für die drei auszubrechen, ja, alle drei flüchten sich in eine Parallelwelt. Das Alter-Ego der Mutter steigt aus dem Fernseher und ist super erfolgreich, die ältere Tochter träumt sich in die Kindheit zurück und Mädchen hält sich ihren Alien für diverse Experimente. Erwachsen werden und erwachsen sein auf einzigartige Weise gezeichnet und getextet. Empfehlung!
Aisha Franz hat in Kassel Visuelle Kommunikation studiert, Alien ist ihre Abschlussarbeit und mittlerweile ist sie Neu-Kölnerin. Mehr auf www.fraufranz.com

Montag, 31. Oktober 2011

Barev


Im Zweifelsfall Ararat. Hier heißt alles Ararat. Das Hotel, die Bank, der Cognac, das Bier, die Bar, der Berg. Ja, der aus Funk, Fernsehen und Bibel bekannte Berg. Auf dem einst der Fährmann Noah seine Arche anlegte, als die Fluten wichen.
Apropos Gefährte und Straßenkreuzer. Viele klassische, kantige Ladas auf den Straßen. Lustig die mit aufgemotztem Soundsystem - wirkt sehr skurril. Das was bei uns aus verspoilterten, getunten Golf GTIs poltert, kommt hier aus Lada Taigas, Novas und wie sie alle heißen. Das Straßenbild ist - meine Erfahrungen anbelangend - eine Mischung aus Tunis und Athen.
Und zum Abschluss ein paar Fakten. In Jerewan leben 1,2 Millionen Menschen, 3 Millionen in ganz Armenien. Weltweit gibt es aber 10 Millionen armenisch Sprechende. Ach ja, Barev heißt so viel wie Hallo!

Samstag, 29. Oktober 2011

Schnorhakalutjun


Das heißt DANKE und ist armensich. Die haben 36 Buchstaben und da schaut das dann ganz anders aus aber aussprechen tut man es in etwa so. Ja, ich war in Jerewan, nein, den Ararat habe ich nicht gesehen. Aber jede Menge Anderes.
Live bloggen war leider nicht möglich, hab ich halt mal wieder analog den Kugelschreiber bedient und ein Notizbüchlein vollgeschrieben.
Eine Auswahl wird in den nächsten Tagen hier erscheinen.
Hier schon mal ein Blick (mit Baulücke) von oben.
Fortsetzung folgt

Mittwoch, 19. Oktober 2011

Generation Projektarbeit


Bereits mit ihrem 2007 im Haymon Verlag erschienenen Debüt Taghelle Gegend hat Angelika Reitzer die literarische Landschaft nachhaltig bereichert. Darin leuchtet Reitzer in einer sehr bildreichen Sprache und luziden Detailbeschreibungen das Alltagsleben aus und erstellt somit ein literarisches Zeitbild von bleibendem Wert und bestechender poetischer Kraft. Diverse Stipendien und Preise (u. a. Reinhard Priessnitz Preis 2008, Marianne von Willemer Preis 2009) sowie der Prosaband Frauen in Vasen (Haymon 2008) folgten. 2010 dann der große Wurf.

Arbeitslosigkeit kommt vor dem Fall. Alles steht und fällt mit dem Job. Lebensrhythmus und Lebensqualität werden vom Job vorgegeben. Angelika Reitzer hat darüber einen unter die Haut gehenden Roman mit dem Titel unter uns geschrieben.
Am Anfang steht ein Familienfest. Die Eltern von Clarissa ziehen sich zurück in den emotionalen und beruflichen Ruhestand. Was von der Familie bleibt, sind alte Filme. Clarissa war Assistentin der Geschäftsführung und Loftbewohnerin, nun ist sie arbeitslos und in Untermiete bei Freunden.

Vom Loft über ein WG-Zimmer im Hochparterre in den Keller der heilen Familie von Klara und Tobias. In unter uns macht Reitzer Auflösungstendenzen beruflicher, persönlicher, und partnerschaftlicher Art evident und übt dadurch implizit Gesellschaftskritik. unter uns ist auch ein Roman über die relative Freiheit von Freischaffenden, über das Prekariat, die Generation Projektarbeit und die Job-auf-Zeit-Falle.

So offen wie die Zukunft der Protagonisten ist auch die formale Umsetzung des Textes. Reitzer erzählt nicht linear, sie verwebt verschiedene Ebenen miteinander, wechselt laufend die Perspektive, lässt Episoden ineinander fließen und ist dabei stets unaufgeregt im Ton aber sprachlich äußerst präzise.
Die Lebensentwürfe im weiten Feld der Kreativitätswirtschaft haben eigene Gesetze. Hohes Ansehen aber keine Absicherung. Selbstausbeutung steht auf der Tagesordnung und ist ebenso Voraussetzung wie hundertprozentige Flexibilität. unter uns ist ein sprechender und mehrdeutiger Titel dieses Romans mit der Hauptfigur Clarissa. Clarissa ist unter uns, verschwindet aber mehr und mehr, geht unter.
Es wird einem mehr bekannt vor kommen, als einem lieb ist. Lesen!