Sonntag, 28. Februar 2010

Das Alphabet der Zeit


Gerhard Roth
wurde 1942 in Graz geboren. Er lebt als freier Schriftsteller in Wien und der Südsteiermark. Jede Menge Veröffentlichungen. Darunter der siebenbändige Zyklus Die Archive des Schweigens und Romane mit einem Kurzwort und dem bestimmten Artikel im Titel: Der See, Der Plan, Der Berg, Der Strom, … zuletzt: Die Stadt (über Wien!)

Das Alphabet der Zeit ist ein dezidiert autobiographisches Werk, die Erinnerung setzt 1945 ein, es gibt eine Grobeinteilung der jeweils recht kurzen Kapitel in: Prolog, Kindheit, Jugend, Tod, Anhang und Bilderzählung; Die erste Hälfte des Buches beschäftigt sich akribisch mit der Kindheit, der Herkunft des Autors.

Kindheit (Das Alphabet der Zeit bis Seite 199)

Die Erinnerung ist natürlich eine Verfälschungsmaschine, aber der Autor versucht mit äußerster Genauigkeit und unter Zuhilfenahme von Aussagen von Freunden, Familienmitgliedern... seine Geschichte zu rekonstruieren. ZB: „Günter Brus, der als Kind den Vorfall zufällig vom Balkon seines Großvaters aus mit dem Fernglas beobachtet hatte, wird mir die Ereignisse bestätigen, als wir vierzig Jahre später auf der Reise nach Amsterdam den Bahnhof passierten und ich anfing, darüber zu sprechen.“ (S. 11)

Er behauptet, keine Erinnerung an Wörter zu haben nur an Bilder (und die Bilder der frühen Erinnerungen sehe er nur in Schwarz-Weiß). Bilder, Fotos, das Panoptikum und natürlich das Kino spielen eine große Rolle in der Kindheit und Jugend des Autors. Fotos schieben sich an die Stelle von Erinnerungen, beeinträchtigen sie, ändern sie, machen sie zu Geschichte, zur Geschichte des Autors.

Und die Kindheit ist recht turbulent. Mehrmals ist der Erzähler dem Tod nahe. Ein Schlitten kann ebenso gefährlich sein wie eine Fotolinse. Von Gott und der Religion hält er von Kind auf nichts. Sein erster Gott war der Kuckuck in der Kuckucksuhr. Bedeutender sind Bücher. „Der Struwwelpeter“, „Max und Moritz“ und bald der Anatomische Atlas seines Vaters. Der ist Arzt und war im Dienst der Nazis, deshalb hat er in den Nachkriegsjahren keinen leichten Stand und muss aufs Land „Hamstern“ gehen (ohne amtliche Erlaubnis ordinieren und hoffen, dass die Bauern angemessene Lebensmittelbezahlung raus rücken), Gerhard assistiert, hilft schon mal beim Schweineschmalzdiebstahl, lernt so das Medizinerhandwerk kennen und ist selbst oft und gern krank. (Seine Eltern schoben alles auf die nahe „Mülldeponie und die Umstände“.) Der Kranke aber genoss die Aufmerksamkeit, die ihm so zuteil wurde.

Gerhard hat einen älteren Bruder (Paul, den Gerhard aus Neugier und weil er „so fasziniert von seinem Zappeln war“ fast einmal erwürgt hätte) und einen jüngeren (Hermann, der kaum eine Rolle spielt).


Ad Kindheit: „Vielleicht sind wir in unserer Kindheit auf andere Weise intelligent, schöpferisch und klarsichtig als im Erwachsenenalter. Wenn ich über diese Zeit schreibe, tauchen viele Einzelheiten auf, mag sein, dass es falsche Erinnerungen sind, aber selbst dann drücken sie etwas aus, das möglicherweise wichtiger ist als die vorgebliche Wahrheit...“ (S. 29)

Vertraute Situation 1: „Kerzen waren für mich der Inbegriff für eine unangenehme Situation – wenn zum Beispiel der Strom ausgefallen war.“ (S. 69)

Vertraute Situation 2 (über einen Nachbarsjungen): „Er war um fünf oder sechs Jahre älter als wir und hatte den Ruf eines wenig zartfühlenden Kindes.“ (S. 108)
Vertrautes Situation 3: „Noch oft habe ich unter der Eigenschaft gelitten, zu wissen, dass ich mir mit etwas schade, aber nicht anders zu können, als in mein Unglück zu laufen:“ (S. 194f)
Altbekanntes Trauma: „Mehrfach bemerkte meine Mutter, dass ich ohne den Tod Petrs nicht das Licht der Welt erblickt hätte. (Außerdem hatte sie sich, als sie mit mir schwanger war, ein Mädchen gewünscht.) (S. 123)

Samstag, 27. Februar 2010

Fotoessay (St. Gallen)


Wer sich hier nicht verliest, hat das Herz nicht am rechten Platz!

Jetzt ist es auch schon wieder ein paar Wochen her, dass ich nach St. Gallen geladen wurde. Man trifft dort an Häusern viele Erker und auf Häusern viele penthouseartige Hütten. Bären, Kind, Kegel und anderes Getier bummeln in der Fuzo - SlammerInnen steppen in der Grabenhalle!











Trotz des verlockenden Angebots machte ich nicht davon gebrauch. Ich muss immer daran denken, dass eine Augenbrauenzupffachkraft ja auch einfach einmal einen schlechten Tag haben und abrutschen kann. Wie weit sich wohl eine handelsübliche Pinzette in den Augapfel reinbohrte? Nein, ich will's gar nicht wissen.

Freitag, 26. Februar 2010

Nicht der Süden


Nicht der Frühling ist das, was der Winter momentan macht. Das spricht an sich eh für ihn, den ollen Winter, nur nervt er halt. Füße kalt, Laune im Keller, Nase voll Rotz.
Wer braucht das? Genau. Niemand.
Was brauchen wir? Richtig. Gute Bücher.
Zum Beispiel: Nicht der Süden von Kirsten Fuchs und Volker Strübing (ja, alte, bekannte Hasen, Ostern on the way;-).

Die Fakten müssen vorausgeschickt werden. Fuchs und Strübing reisten sieben Wochen lang per Schiff und Flugzeug in den hohen Norden, um eine vierteilige TV-Doku-Serie anderer Art für 3Sat zu drehen. Und jetzt also das Buch zur Serie. Ein Buch mit DVD. Auf der DVD: Folge 1 der Serie sowie viele, viele schöne (Neid-will-auch-in-Echt-sehen)Bilder und gekonnt vorgelesene Tagebucheinträge der AutorInnen. Schon die DVD allein ist den Einkaufspreis wert.

Nun aber zum Buch: Kirsten Fuchs wählt ein Zukunftszenario (2063), um ihre Enkelin auf die Reise zu schicken und Volker Strübing interviewt sich selbst. (Noch etwas vorweg: Fuchs und Strübing sollten EhrenbürgerInnen in Island, auf den Faröern und in Spitzbergen werden. Ganz große Pionierarbeit!)

Fuchs Text sprüht vor Phantasie und erfreut mit sprachlichen Erfindungen (in 50 Jahren verändert sich die Sprache und der Bezugsrahmen nun mal). „Palästinapalästina“ ist eine Beruhigungsformel, aus „wie Sand am Meer“ wird „wie Müll am Meer“ und „fäkal“ ist das „geil“ der 2060er Jahre. 98 % der Bevölkerung sind tablettensüchtig, der große „Süsselmann“ hat alles in der Hand im Norden und die Erzählerin ist, gemeinsam mit einer originellen Mannschaft, auf der Suche nach dem letzten Eisbären (um ihn dann zu zeichnen), will aber eigentlich nur ihren Großvater treffen.

Zur Mannschaft: Utz ist der mit Sozialtourette („angeobergrindeter Votzen-Nixer“), Kai das Kamerakind, das zu rauchen aufhören wird, wenn es 8 ist, Floh der Hund der gut leckt, die Zwillinge sind die, die niemand auseinander kennt, Nils ist der, der nichts außer Hunger fühlt, Hartmut der Mann der zerfasterten Rede (quasi Hartmut Fasel), Elian der Assistentassistent und nicht zu vergessen ist auch Range, der Halbelf, der sich in den Kopf der Erzählerin reindenkt. Eine Promenadenmischung, die schon mal Unterhaltung garantiert. Aber auch die Umgebung hat was zu bieten: Rauschfischrauchende Hafenarbeiter mit Knautschgesichtern, Schafattrappen und zweibeinige Infotafeln mit schwer einszwei an/auf der Waffel. Was für ein Setting und was für eine Heldin!
„Ich schlief viel. Die Essenszeiten waren so regelmäßig, dass mein Körper eine Fressuhr wurde.“ (S. 81) Man muss die Doku gar nicht gesehen haben, um an diesem Text Spaß zu haben, erkennt man aber die realen Vorbilder für die Figuren in „Der letzte Eisbär“, dann ist das ein zusätzlicher Vergnügungsfaktor.

Volker Strübing erfindet sich in „Dosenrosenkohl“ eine/n fiktive/n GesprächspartnerIn und erzählt von den Leiden eines Autors mit Hang zur Depression, der plötzlich auch noch Regisseur und Darsteller sein soll, aber eigentlich nur verliebt sein will. Nebenbei werden amüsant und erhellend (auch anschauliche Depressionsbeschreibungen können erhellend sein) Vorfreuden, Stress- und Angstsituationen, generelle Zweifel und Probleme mit InterviewpartnerInnen erörtert. Der Interviewte gibt sich (was die Weltrettung betrifft) zynisch, fatalistisch und gelegentlich selbstmitleidig, zwinkert aber zwischendurch immer wieder gehörig mit beiden Augen. Dieses Interview ist informativ, berührend und unterhaltsam und das ist ziemlich viel.

„Nicht der Süden“ macht nicht nur Lust auf anderes Fernsehen, sondern auch aufs Lesen und „Nicht der Süden“ macht auch Lust auf den Norden.
In Summe ist „Nicht der Süden“ weit mehr als ein Buch zur Serie, in Summe ist „Nicht der Süden“ nicht zu toppen.
(Kirsten Fuchs & Volker Strübing, Voland & Quist 2009)

Mittwoch, 24. Februar 2010

Schlafbuch

Der Mann ohne Eigenschaften (MoE) entpuppt sich als ein zuverlässiges Schlafmittel.
Das hat eher wenig mit der Qualität des Textes zu tun aber eher mehr mit der Ausstattung des Buches. So dicht bedruckte Seiten lesen sich nicht leicht. Das ist anstrengend für das Auge (ja, auch das andere).
Die Sprache tut freilich das Ihrige dazu und leicht zu halten ist der Ziegel ja auch nicht. Das heißt: in Summe schlummer ich nach 10-20 MoE-Seiten gerne weg (vor allem, wenn ich Neo-Citran-beeinträchtigt bin) und so geht das natürlich nur sehr schleppend voran.

Ich eröffne also – weil bettlägrig aber lesegewillt – eine zweite Lesefront. Parallel zum MoE mach ich mich über das „Alphabet der Zeit“ von Gerhard Roth her (nur circa 900 Seiten und lockerer gesetzt und Gerhard ist nicht Joseph aber immerhin).
Leicht einschlafen hat zwar seine Vorteile und es ist gut zu wissen, wie es sich leicht einschlafen lässt aber immer muss das auch nicht sein.

Mittwoch, 17. Februar 2010

Fasnacht

Montag 22. (4 Uhr) bis Donnerstag 25. Februar (4 Uhr)

Der Morgenstraich ist der Auftakt zur Basler Fasnacht. Es folgen die drey scheenschte Dääg. Die Fasnachtscliquen stellen Ladärnen auf und die Schnitzelbanggsänger lassen das Jahr sarkastisch Revue passieren. Räppli sind Konfetti, Waggis traditionelle Basler Fasnachts Verkleidungen und die Guggemuusig macht Schränze bis zum Ändstraich.

Das werde ich mir nicht entgehen lassen, einstweilen aber bin ich für ein paar Tage in Wien.

Diotima über Wien: „Es sei eine so heitere Seelenhaftigkeit in dieser Stadt – hatte Dotima erwidert, und sie war es zufrieden.“ (S. 109)


Freitag, 12. Februar 2010

Baselgeschwitter


Kurt Schwitters hat 1935 ein Gedicht über Basel geschrieben. Das darf an dieser Stelle natürlich nicht vorenthalten werden. Es heißt

Basel

Es geht ein bißchen rauf,
Es geht ein bißchen runter,
Dazwischen fließt der Rhein.
Grün soll sein Wasser sein.
Wenns regnet, stürmt und schneit,
Dann ist es braun;
Braun anzuschaun.
Verhältnismäßig drückend föhnt der Föhn,
Es brodelt tief im Grunde;
Darüber eine Stadt,
Die Basels Namen trägt und hat.
Dort lint es Böck;
Dort beint es hol,
Es waldet grün und witzt.
Der Ritter stricht den Wurm
Am Dom.
Die Kirche aus Zement
Ist Mosers hohe Zeit.
Es brennt,
Wenns brennt,
im Kleid.
Der Frauen holder Chor
Lächelt dem Tor.
Mann,
Sie dich vor!!

Donnerstag, 11. Februar 2010

PDUG

Das Prinzip des unzureichenden Grundes
Robert Musil. Der Mann ohne Eigenschaften (Seite 103-202)

Diotima große Idee besteht darin, den Universalgelehrten Preußen Arnheim die geistige Leitung der großen vaterländischen Aktion zu überantworten. Sie hatte sich vorgenommen Ulrich für „unreif“ zu erklären und ihn zu „bemitleiden“. Noch ehe jemand weiß, worin die sogenannte Parallelaktion eigentlich bestehen sollte, wird sie von Publizisten schon zum „Österreichischen Jahr“ gemacht. „Das hieß, wir wollen einmal zeigen, was wir eigentlich sein könnten;“ (S. 139)

Diotimas Gatte, der Sektionschef Tuzzi, hatte zu ihrem Salon stets ein zwiespältiges Verhältnis: „(...) denn wenn Kultur auch sozusagen das Salz in der Speise des Lebens sei, so liebe feine Gesellschaft doch nicht eine allzu gesalzene Küche;“ (S. 106)
Er war, von der Zeit der „Bräutigamszärtlichkeiten“ abgesehen, immer ein „Nützlichkeits- und Verstandesmensch“, in seiner Junggesellenzeit ein „ruhiger Bodellbesucher“ gewesen und er ist nicht blind, er erkennt, dass Diotima nicht bloß einen großen Geist für die große Sache einsetzen, sondern dass sie Arnheim vor allem bei sich, für sich haben möchte. Tuzzi fühlt Unbehagen und sich herausgefordert.

Ulrichs Verhältnis zu Arnheim: „In Ulrich erwachte eine Gassenjungenlust, mit Steinen oder Straßendreck nach diesem in Vollkommenheit und Reichtum aufgewachsenen Menschen zu werfen, während er zusah, mit welcher Aufmerksamkeit der sich anstellte, um den albernen Vorgängen zu folgen, denen sie beiwohnen mußten;“ (S. 178f)

Dazwischen natürlich jede Menge Gedankengänge in allerlei Richtungen:

„Es ist leider in der schönen Literatur nichts so schwer wiederzugeben wie ein denkender Mensch. (…) Der Mann ohne Eigenschaften dachte aber nun einmal nach. (…) Man muß also sagen, daß ein Mensch, wenn er nur ein bißchen nachdenkt, gewissermaßen in recht unordentliche Gesellschaft gerät!“ (S. 111ff)
Ulrich hört auch Stimmen und kann mitunter ein ziemliches Ekelpaket sein. Zum Beispiel wenn er gerade keine Lust hat die Lust Bonadeas zu erwidern. Nur gut zu wissen, dass auch er zuweilen von Liebeskrankheit geplagt wurde. Außerdem begeht schon auch Ulrich mitunter Unvorsichtigkeiten, denn seine große Klappe ist ja unbestritten und schnell ist der Grat des Zulässigen überschritten:
„Nun war es dieser aber ungewohnt, den Staat anders zu betrachten als ein hotel, in dem man Anspruch auf höfliche Bedienung hat, und verbat sich den Ton, in dem man zu ihm sprach, was unerwarteterweise die Schutzmannschaft zu der Einsicht brachte, daß ein Betrunkener für die Anwesenheit von drei Schutzleuten nicht genüge, so daß sie Ulrich gleich auch mitnahmen.“ (S. 158f)
Mit relativer Glimpflichkeit endete sein Leichtsinn, Ulrich wird zum ehrenamtlichen Sekretär der großen patriotischen Aktion und der Vorfall ist vergessen.

Vergessene Gefühlsregungen: „...und als sie sich vom Tisch aufrichtete, hatte ihr Herz geklopft, wie wenn in einem Mörser Zucker zerstoßen wird.“ (S. 181)
Vertrauter Sachverhalt: „Denn dauernd vermögen bloß Narren, Geistesgestörte und Menschen mit fixen Ideen, im Feuer der Beseeltheit auszuharren;“ (S. 186)

Jugend im Wandel: „Unsere Jugend hat ja ganz recht, wenn sie Fasane und Säue schießt, reitet und sich hübsche Frauenzimmer aussucht, - dagegen ist wenig zu sagen, wenn man jung ist; aber früher haben eben die Hauslehrer einen Teil dieser Jugendkraft darauf gelenkt, daß man den Geist und die Kunst ebenso heben muß wie die Fasanen, und das fehlt heute.“ (S. 189)

Wiederbelebenswerte Art: „Sektionschef Tuzzi hatte die Augen zu einem Stäubchen auf seiner Hose niedergeschlagen, so daß man sein Lächeln als Zustimmung deuten konnte.“ (S. 197)

Lebensweisheit des Tages: „Ruhig zu schlafen, gehörte nach seiner Ansicht zu den Haupttugenden eines Diplomaten, denn es war eine Bedingung jedes Erfolgs.“ (S. 202)

Zu klärendes Wort: Ewesprache
Ah ja, eine Kwa-Sprache und von Menschen im Süden Ghanas gesprochen. Da schau her.

Montag, 8. Februar 2010

Seinesgleichen geschieht

Robert Musil. Der Mann ohne Eigenschaften (Seite 83-103)

Ulrich ist im Projekt zur Würdigung des Friedenskaisers eine seine Jugend ehrende Stellung zugedacht, er muss dazu aber Schritte unternehmen. So ist Seiner Exzellenz Graf Stallburg ein Besuch abzustatten. Dort erlaubt er sich eine inhaltliche Entgleisung indem er Partei für den verurteilten Mörder Moosbrugger ergreift, was jedoch zur Folge hat, dass er vom Backenbartträger als „tatkräftig“ und „feurig“ eingestuft wird.

Seiner Erlaucht Graf Leinsdorf (religiöser und leidenschaftlicher ziviler Idealist und Leiter der großen vaterländischen Aktion) ist ebenfalls Aufwartung zu machen, Ulrich zieht es aber vor, seine Cousine Ermelinda Tuzzi zu besuchen und die zieht ihn in ihren Bann. Er nennt sie gleich mal Diotima und hat eine Ahnung:

„Ulrich hatte den bestimmten Eindruck, daß sie auserwählt seien, einander große Unannehmlichkeiten durch Liebe zu bereiten.“ (S. 95)

Ulrich ist übrigens wohl kein unfescher Kampl und ist: „In dem Alter, wo man noch alle Schneider- und Barbierangelegenheiten wichtig nimmt und gerne in den Spiegel blickt,“ (S. 31)
Als Schüler war er aufmüpfig
und wurde in ein kleines belgisches Erziehungsinstitut gesteckt. „Dort lernte Ulrich, seine Mißachtung der Ideale anderer international zu erweitern.“ (S. 19)

Sonntag, 7. Februar 2010

Schere, Stein, Beton


Basel ist eine sehr schöne Stadt.
Offen, international und historisch.
Ich logiere in einem Haus, das das große Erdbeben von 1376 überstanden hat. Es gibt dort eine Fruchtschütte, original mittelalterliches Mauerwerk und sogar keltische Spuren.

Basel kann aber auch anders.
Auf dem Weg zum Schwimmbad habe ich nebenstehenden Ziegelstadel zu passieren, der, so mutmaße ich, von der untenstehenden Stammkundenmaurerei (Wort des Tages) vollbracht wurde.
Die Stammkundenmaurerei ist ja ein etwas in Vergessenheit geratenes Handwerk, das nur den treusten Kunden zuteil wurde. Heutzutage liegt die Betonung bei der Treuebelohnung vielmehr auf Kundenkartenbetonierungsbindung.

Geistiger Umsturz

Robert Musil. Der Mann ohne Eigenschaften (Seite 54-79)

Wissenswertes über Walter und Clarisse, der ekelerregende Fall Moosbrugger und ein briefliche Ermahnung des Vaters. Damit endet der erste Teil des ersten Buches.
Walter ist ein Mann mit Eigenschaften. Für Walter ist Ulrich einer vom Menschenschlag, den die Gegenwart hervorgebracht hat und er ist sich sicher, dass Ulrich keinen guten Einfluss auf Clarisse ausübt. „Er verschlimmerte ruchlos in ihr, woran Walter sich nicht zu rühren getraute, die Kaverne des Unheils (...)“ (S. 63)

Was ist nun Ulrich für ein Mensch?

„Könnte man die Sprünge der Aufmerksamkeit messen, die Leistungen der Augenmuskeln, die Pendelbewegungen der Seele und alle die Anstrengungen, die ein Mensch vollbringen muß, um sich im Fluß einer Straße aufrecht zu halten, es käme vermutlich – so hatte er gedacht und spielend das Unmögliche zu berechnen versucht – eine Größe heraus, mit der verglichen die Kraft, die Atlas braucht, um die Welt zu stemmen, gering ist, und man könnte ermessen, welche ungeheure Leistung heute schon ein Mensch vollbringt, der gar nichts tut. Der Mann ohne Eigenschaften war augenblicklich ein solcher Mensch.“ (S. 12)

Ein Möglichkeitsmensch also?

„Solche Möglichkeitsmenschen leben, wie man sagt, in einem feineren Gespinst, in einem Gespinst von Dunst, Einbildung, Träumerei und Konjunktiven;“ (S. 16)

„Und da der Besitz von Eigenschaften eine gewisse Freude an ihrer Wirklichkeit voraussetzt, erlaubt das den Ausblick darauf, wie es jemand, der auch sich selbst gegenüber keinen Wirklichkeitssinn aufbringt, unversehens widerfahren kann, daß er sich eines Tages als ein Mann ohne Eigenschaften vorkommt.“ (S. 18)

Über die Dummheit: „Es gibt schlechterdings keinen bedeutenden Gedanken, den die Dummheit nicht anzuwenden verstünde, sie ist allseitig beweglich und kann alle Kleider der Wahrheit anziehen.“ (S. 59)

Über Österreich, über K.u.K.: Kakanien: „Und in Kakanien wurde überdies immer nur ein Genie für einen Lümmel gehalten, aber niemals, wie anderswo vorkam, schon der Lümmel für ein Genie. (…) Es war nach seiner Verfassung liberal, aber es wurde klerikal regiert.“ (S. 33)

Über die Geschwindigkeit: „Wenn uns die Sache mit der Geschwindigkeit nicht gefällt, so machen wir doch eine andere! Zum Beispiel eine ganz langsame, mit einem schleierig wallenden, meerschneckenhaft geheimnisvollen Glück und dem tiefen Kuhblick, von dem schon die Griechen geschwärmt haben.“ (S. 32)

Über Gefühle von Frauen: „Ihr Gefühl hat noch nicht gelernt, sich ihres Verstandes zu bedienen, und zwischen diesen beiden liegt ein Unterschied der Entwicklung, der fast so groß ist wie der zwischen Blinddarm und der Großhirnrinde.“ (S. 37)

Über die Gefühle von Männern: „Denn die zarteren Gefühle der männlichen Hingabe sind ungefähr so wie das Knurren eines Jaguars über einem Stück Fleisch, und eine Störung darin wird sehr übelgenommen.“ (S. 42)

Über Ingenieure: „Warum gefällt es ihnen, Busennadeln mit Hirschzähnen oder kleine Hufeisen in ihre Halsbinden zu stecken?“ (S. 38)

Über den Wandel der Zeit: „Man liegt nicht mehr unter einem Baum und guckt zwischen der großen und der zweiten Zehe hindurch in den Himmel, sondern man schafft;“ (S. 39)


Donnerstag, 4. Februar 2010

DUM-Fahne


Befalggung

Nacht war schon - Nebel nicht.
Dennoch eine Geheimaktion
Am 3/2 um 3Uhr30 habe ich die
Mittlere Brücke beflaggt
Und siehe da, die Basler haben Verständnis
für dies Fahnenhissung und so steht der DUM-Banner auch heute noch im steifen Basler Wind

Mittwoch, 3. Februar 2010

Der Mann ohne Eigenschaften

Robert Musil. Der Mann ohne Eigenschaften (Seite 1-54)

Ulrich heißt unser Held, der keiner sein will und auf den ersten 50 Seiten erfahren wir schon allerhand über ihn. Wir wissen wo er wie wohnt, dass er Anfang 30, recht gut in Form ist und sich gerade Urlaub von seinem Leben nimmt. Ulrich wollte schon immer ein bedeutender Mensch werden, sein erster Versuch dies zu erreichen, ließ ihn zum Fähnrich in einem Reiterregiment werden, dann verschrieb er sich der Technik und schließlich der Mathematik. Es wird offenbart, dass sein Vater ein Mann mit Eigenschaften war, über die Mutter wird vorerst noch nichts verraten aber über andere Frauen. Seine Gefährtin und eine Geliebte, sowie eine Freundin und einen Freund dürfen wir schon näher kennen lernen auf diesen ersten Seiten und an Action mangelte es auch nicht. Ein Unfall gleich zum Auftakt und später dann wird Ulrich windelweich geschlagen.

Namen, Zahlen, Zitate? Aber gerne doch. WIEN im Jahre 1913. „Städte lassen sich an ihrem Gang erkennen wie Menschen.“ (S. 9) Wien, aber das ist an sich nicht wichtig: „Die Überschätzung der Frage, wo man sich befinde, stammt aus der Hordenzeit, wo man sich die Futterplätze merken mußte.“ (S. 9) Ulrich wohnt in einem „kurzflügeligen Schlößchen, ein Jagd- oder Liebesschlößchen vergangener Zeiten (…) die vornehme Stille der Bücherwände einer Gelehrtenwohnung“ (S. 10) natürlich inklusive. Außerdem kann seine Wohnung mit einem Ankleidezimmer aufwarten. Für die Fitness gibt es einen Boxball.

Sein Vater hielt diese Lebensart für eine „unheilverheißende Anmaßung“. Sein Vater verabscheute die Unüberlegtheit, Ulrich verabscheute gewöhnliche Wohnungen. Und: „Wenn man sein haus bestellt hat, so soll man auch ein Weib freien.“ (S. 21) Leontine ist Sängerin in einem Varieté. Ulrich nannte sie Leona „und ihr Besitz erschien ihm begehrenswert wie der eines vom Kürschner ausgestopften großen Löwenfells.“ (S. 22) ROARRR! Leona zeichnet sich u. a. durch Gefräßigkeit aus und weil das öffentliche Auftreten mit ihr nicht gerade nach seinem Geschmack war, „verlegte er ihre Fütterung gewöhnlich in sein Haus, wo sie den Hirschgeweihen und Stilmöbeln zuspeisen mochte.“ (S. 24) Aber immerhin verachtete ihn Leona ein bisschen.

Dass Ulrich eine große Schnauze hat, dürfte schon klar geworden sein, dass er auch auf die Schnauze kriegt, tut gut (wenngleich der Fehler an seiner Verprügelung seiner Meinung nach lediglich auf „sportlichem Gebiet lag“). Dass ihn selbst in dieser Lage ein guter Engel rettet, ist fast schon eine Frechheit. Dass dieser gute Engel ihn anderntags aufsucht und seine Geliebte, ja seine Bonadea wird, kommt aber nur in den besten Romanen vor („Sie hatte nur einen Fehler, den daß sie in einem ganz ungewöhnlichen Maß schon durch den Anblick von Männern erregbar war.“(S. 42)).

Clarisse ist Walters Frau („Sie verhöhnte die wallende Waschküchenwärme, in der er Trost suchte.“ (S. 53)), Walter ein vielseitiger Dilettant und Ulrichs Jugendfreund. „Ulrich wußte, daß sie sich Walter wochenlang verweigerte, wenn er Wagner spielte. Trotzdem spielte er Wagner; mit schlechtem Gewissen; wie ein Knabenlaster.“ (S. 49)
Höchst vergnüglich das alles und an zitierwürdigen Passagen derart reich, dass ich da „allsogleich", nein, morgen einen eigenen Eintrag folgen lasse werde.


Dienstag, 2. Februar 2010

Erste Eindrücke in der Fremde


Monatsrückschau

Das Schweizer Bier ist mir zu teuer. Der Schweizer Käse ist ein Segen. Die Schweizer Schokolade ist mir wurscht. Die Schweizer Cervelat ist das Schnitzel des armen Mannes (die Migros-Budget-Produktreihe die Lebensversicherung desselben. Überhaupt die Migros: Aber da am besten einfach Gabriel Vetters Text Migros-Kind anhören. Apropos Vetter)

Die Schweizer Wähen süß/salzig sind eine Wonne. Der Schweizer Kaffee ist besser als deutscher aber schlechter als italienischer. Das Schweizer Brot ist krümelstark und scharfkrustig (ich kaue mir täglich mein Zahnfleisch blutig). Das Schweizer Selbstbewusstsein ist stark. Die Schweizer Schispringer sind schwach (oder sagen wir so, sie sind wenige, sie sind einer, ein A, ein Mann, ein Amann, mehr nicht).

Die Schweizer Schifahrerinnen und Schifahrer kenne ich nicht (außer Peter Müller und Vreni Schneider). Die Schweizer Disziplin beim Längenspulen im Hallenbad macht mir Angst (niemand planscht, spricht, springt, tollt herum oder macht sonst irgend welche Ball- oder Wasserspiele. Alle kraulen, brusten, rücken, delphinen gnadenlos dahin und wer von seiner Linie abweicht, zu oft ausweicht, der hat verloren, der ist zum Slalomschwimmen verdammt und kriegt regelmäßig kräftige Arm- und Fußtempischläge ab. Anfangs hatte ich nach dem Schwimmen mehrere blaue Flecken aber sie werden weniger).

Die Schweizer Fahrradparkgarage in der Basler Bahnhofspassage stimmt mich fröhlich. Die Schweizer Gebotsschilder schüchtern mich ein: Kein Kehricht! (Wenn ich nicht absolut unbeobachtet bin, habe ich nicht den Mut irgend etwas in öffentliche Mülltonnen zu werfen, aus Angst davor, zur Rede gestellt zu werden. War das nicht Kehricht? Rest-, Haus- oder gar Sondermüll? Der Bademeister im Hallenbad ist Schuld an dieser Neurose. Er fragte mich, was denn das da am Boden wäre, ich sah es nicht ohne Brille und musste mich hin knien. Ich wusste es nicht. Er schien mir nicht zu glauben. Er hielt nicht lange hinter dem Berg und fragte schroff, ob ich im Badebereich gegessen hätte. Nein. Warum ich denn dann eine Tasche mit hätte, was denn da drinnen wäre, ob ich wirklich nichts gegessen oder vielleicht gar etwas getrunken hätte. Ich verließ das Hallenbad fluchtartig. Der Bademeister fühlte sich in seinem Verdacht bestätigt.)

Schweizer Bademeister sind mir suspekt und zu mächtig. Ich gehe vorerst nicht mehr schwimmen. Zum Laufen ist es aber noch zu kalt und rutschig. Ich werde also fett und faul. Ich bin traurig, finde aber Trost. Plötzlich ist mir Schweizer Schokolade nämlich doch nicht wurscht, sie schenkt mir vielmehr sonnige Freudengefühle und wohlige Leibesfülle. Ich esse nun täglich Schokolade. Ich verwandle mich, ich nehme Gestalt eines Schoggiwegglis an, ich lasse mich nicht beirren und mache weiter. Mein Selbstbewusstsein steigt, ich fühle mich integriert.

Ich schöpfe neuen Mut und wage mich erneut ins Hallenbad, einfach um zu schauen, was passiert. Der Bademeister sagt. Halt, Stopp, nein, Essen ist aus hygienischen Gründen im Badebereich nicht erlaubt. Ich heiße Markus entgegnete ich ihm forsch, nicht Essen und ob er damit sagen wolle, dass ich ihm stinke. Ich heiße Würstel, sagte der Bademeister mit fiesem Lachen, bin nur ein kleines Rädchen im Systems, führe nur Anweisungen aus und verwehrte mir den Weg.

Ich fühlte mich ausgestoßen, verlassen und einsam. Ich ging zum Basler Bahnhof, der ist nicht weit entfernt vom Hallenbad Rialto und zog mir ein Warteticket, nur um nach circa 9 Minuten Wartezeit, wie mir das rote elektronische Schriftband vorsorglich mitteilte, mit jemanden reden zu können. Ich fragte die Dame am Schalter 9, ob sie gut geschlafen habe?

Ja und Sie?, wollte sie wissen.Geht so, sagte ich. Um halb sechs morgens weckte mich entweder der Druck auf meiner Blase oder der LKW Zustelldienst vor der Tür. Jedenfalls bin ich seither wach. Das ist natürlich fürchterlich, zeigte die Schalterfrau Verständnis für meine missliche Lage. Und sonst so?, wollte sie wissen. Naja, sagte ich, der Bademeister im Rialto scheint etwas gegen mich zu haben. Na da machen sie sich mal keine Sorgen, der ist berüchtigt, versuchte mich die Schalterfrau zu trösten.

Und bei Ihnen fragte ich?, um auch mein Interesse zu bekunden.Ach, wissen Sie, sagte sie, ich klage nicht, ich könnte klagen, aber ich klage nicht, bringt nichts. Ich helfe wo ich kann und das macht mich glücklich. Schön, sagte ich. Ja, sagte sie. Noch was?, fragte sie. Ähm, ...nein, vorerst nicht, sagte ich und da mir nichts anderes einfiel, sind sie morgen auch wieder diese Nummer? Ja, ich bin morgen auch wieder 9 aber ob Sie wieder 572 sind, das ist schwer zu sagen. Probieren Sie es einfach, ermutigte sie mich.Okay, sagte ich, ich werd's probieren. Na dann, danke und bis morgen, sagte ich und schenkte ihr mein bestes Lächeln.Tschüss, sagte sie und winkte. Mein Seelenzustand war wieder rehabilitiert.

Ich rekapitulierte. Schweizer Bademeister sind wie Schweizer Brot: hart, scharf und verleztend. Aber Schweizer Fahrradparkgaragen, Schweizer Käse, Schweizer Wähen, Schweizer Schokolade und vor allem Schweizer Schalterfrauen machen total glücklich.
Merci vülmal.

Montag, 1. Februar 2010

Ohne Ende

Manès Sperber: Wien eine Träne im Ozean 12 (Seite 967-1034)

Dojno erklärt seinem Fluchtgefährten Tony was Sache ist:

„Meine Stellung zum Tode nehme ich schon seit Jahren nicht mehr ernst. Sie ist launisch, töricht. Alle Aphorismen über das Leben sind mehr oder minder richtig, die über den Tod sind gewöhnlich falsch, von der Stimmung eingegeben, nicht von der Einsicht. Sobald sich die Deutschen zeigen, werde ich das Gift nehmen. Aus Angst vor der Tortur? Wahrscheinlich. In der Gewißheit, daß sich mich jedenfalls umbringen? Entscheidend.“ (S. 969)
Dojno verbringt seine Tage auf Post wartend in Bari. Endlich kommt was aus Palästina, ein Brief von Edi. Wenigstens er haut auch überlebt. Über Rom gelangt Dojno schließlich wieder nach Frankreich und erfährt, dass Lagrange umgebracht wurde: „Die, mit denen er sein wollte, haben ihn umgebracht.“ (S. 1020) Die, die verantwortlich dafür sind tuen die Sache ab mit „es waren wirre Zeiten.“ Dafür hat Dojno kein Verständnis.

Mit seinem alten Kameraden Berthier und dem Doktor Meunier zieht er sich schließlich aufs Land zurück, um wieder einmal von vorne zu beginnen, vielleicht mit seinem Kind. Denn dass er Vater ist, hat er nun endlich aus Briefen von Stetten herausgefunden. „Ja, ich höre zu, mein Alter. Ich habe viel zu lernen.“ (S. 1033)

Ob es Frieden geben wird, ist ihnen nicht klar, wichtig aber ist, dass es keinen Krieg mehr gibt. Und würde Dojno gefragt, was er so gemacht hätte während des Zweiten Weltkriegs? Müsste er sagen, viel herum gereist, gefroren, oft auch gehungert, aber hauptsächlich gefroren.

Edi ist kein Gläubeling: „Glaubte ich an Gott, so würde ich ihn bekämpfen, als ob er eine totalitäre, verantwortungsflüchtige Macht wäre.“ (S. 1000)
Traurige Erkenntnis: „Hier wie überall in Europa sprach man während dieser gigantischen Katastrophe am meisten über die mangelnden Nahrungsmittel.“ (S. 1008)